Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
runzelte die Stirn. Zukunft, das war die Zeit, die noch nicht eingetreten war, wie konnte es sie also geben, so daß man sie »sehen« konnte? Das ergab keinen Sinn für sie. »Warum sagst du mir das?« fragte sie.
»Unsere Zukunftsseher haben eine Zeit erblickt, in der die Menschen auf den Straßen von Kendra-im-Delta mit Schwertern kämpfen.« Arré hielt den Atem an, und er hob Schweigen gebietend die Hand. »Wir erblicken eine andere Zeit, in der Kurzschwerter auf Geheiß des Rates aus der Stadt verbannt sind. Wir sehen wieder eine andere Zeit, in der die Stadt angefüllt ist mit Fremdlingen, die von Schiffen kommen wie unsere Fischerboote, nur größer, sehr viel größer, die aus dem Süden gesegelt kamen, fremdartige Männer und Frauen in seltsamen Kleidern, und die unsere Sprache nicht sprechen können. Und wir sehen wieder eine andere Zeit, in der Schiffe aus dem Süden heranziehen, die Krieger bringen, die in die Stadt eindringen und die Wälle niederreißen und die Häuser der Menschen niederbrennen.«
Arré durchlief ein Frostschauder. Unwillkürlich vollzog ihre Hand das Abwehrzeichen. »Wird sich irgendeine dieser Zukünfte tatsächlich ereignen?«
»Das wissen wir nicht«, sagte Jerrin. »Vielleicht nicht eine von ihnen. Ich sage dir dies nicht, damit du dich fürchtest, sondern um dir eine Lektion zu erteilen, wie wir sie im Tanjo lernen mußten. Sie ist nicht leicht zu lernen, aber sie ist ganz einfach: Tu nichts!«
Arré starrte auf den Grund ihres Bechers. Sie dachte: Ist das der Rat, den du Kim Batto gegeben hast?
»Also«, fuhr Jerrin fort, »wenn der Weiße Clan das nächstemal um Aufnahme in den Rat ersucht, dann verweigere ihm diese nicht!«
»Ich habe nur eine Stimme im Rat, L'hel. Nicht ich allein treffe solche Entscheidungen.«
»Aber du bist die stärkste Stimme«, sagte Senta. »Boras Sul ist nicht der Erwähnung wert, Cha Minto ist ... sagen wir willig und gehorsam, und Marti Hok ist einfach alt.«
»Ihr erwähnt Kim gar nicht.«
»Kim Batto wird tun, was ich – wir – ihm befehlen«, sagte die Frau. Ihre Augen hoben sich zu Arrés Augen: sie waren so schwarz wie die des Vogels und undurchdringlich wie Obsidian.
Schritte raschelten im Gras. Ein dunkler Junge in einer kurzen weißen Tunika näherte sich der Bank. »Vergib mir, L'hel, Lehi, aber die Eskorte der Lady Arré ist innerhalb des Tores und wünscht zu wissen, wo die Lady sich befindet.«
»Wie du selbst sehen kannst, Niko, ist sie hier«, sagte Senta. Sie streckte beide Hände aus und ergriff mit ihnen eine Hand Arrés. »Sag ihnen, sie sitzt im Garten, genießt die Sonne und wird bald kommen.«
Der Akolyth verneigte sich und huschte davon. Arré zog ihre Hand fort. Ruhig und fest betrachtete sie die weiße Frau. »Du bist eine Heilerin«, sagte sie.
Senta nickte. »Ja, ich habe die Gabe. Aber ich bin auch noch Wahrheitsfinderin.«
Jerrin sagte: »Senta! Begleite die Lady Arré zum Tor.«
Senta erhob sich. »L'hel«, murmelte sie und verneigte sich. Arré stand ebenfalls auf. Ihre Knie knackten, und der Rücken tat ihr weh. Senta führte sie durch die säulenbestandene gekachelte Halle in den Kuppelbau. Unter der Kuppel wandte sie sich der Statue des Wächters zu und verneigte sich so tief, daß ihr langes Haar die Fliesen berührte. Ihr Körper war stark und biegsam und graziös wie eine Weide. Die Statue lächelte rätselhaft auf sie beide herab.
Die Wachen waren in zwei Reihen vor dem Tor angetreten. Arré begann darauf zuzuschreiten, doch Senta legte ihr die Hand auf den Arm. »Arré Med«, sagte sie, »ich möchte dich um eine Gefälligkeit ersuchen. Du hast eine Leibeigene in Diensten, ein Mädchen von nordländischem Blut. Sie hat goldenes Haar. Du kennst das Mädchen, das ich meine?«
»Ja.«
»Ich würde gern mit ihr sprechen. Ich habe nichts Böses im Sinn mit ihr, das versichere ich dir. Würdest du sie zu mir schicken?«
Arrés Gedanken stoben hastig durcheinander. Was könnte die Wahrheitsfinderin von Sorren wollen? »Sie wird wahrscheinlich nicht kommen wollen«, sagte sie. »Sie fürchtet den Tanjo.«
»Ich weiß«, sagte Senta. Sie neigte den Kopf dicht an Arrés Ohr. »Und sie hat recht, wenn sie einige unter uns fürchtet. Und unrecht, wenn sie andere fürchtet.«
Sie redet gar nicht über Sorren, dachte Arré. »Wen sollte man rechtens fürchten?« murmelte sie.
»Macht ist gefährlich«, flüsterte Senta. »Fürchte den, der sie am meisten begehrt.« Sie lächelte, als habe sie etwas
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