Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
»Sie sehen so regelmäßig aus, als hätte man sie absichtlich angebracht.«
»Das hat man.« Jerrin fuhr sich mit der Linken über die Wange. »Die Asech haben sie mir zugefügt; sie brandmarken ihre Hexer auf diese Art. Einst waren solche Narben ein Zeichen der Schande, jetzt sind sie Ehrenzeichen.«
»Aber du bist kein Asech. Warum hast du sie dann?«
»Ich habe zwei Jahre lang bei den Asech-Hexern gelebt.«
»Was tun Asech-Hexer.«
»Sie heilen«, sagte er, »machen Wetter, finden die Wahrheit. Sie halten auch den Kontakt der Stämme untereinander aufrecht. Es würde zu lange dauern, einen Kurier durch die Wüste zu schicken, und es ist nicht immer sicher. Gedanken zu senden, das geht schneller.«
Arré trank ihren Becher bis zur Neige leer. Reden machte sie stets durstig. Sie hob das Gefäß. »Darf ich dich um noch einen Schluck Wein bemühen?«
Er ließ die Schale aus ihrer Hand schweben und füllte sie, ohne sie zu berühren. Sie wurde von einem Gefühl des Unheimlichen befallen, als sie zusah, wie der Krug sich hob und ganz von selbst eingoß, einer Empfindung, als wären die Dinge in diesem Garten, die Blumen, die Bank, die Steine, die gleitenden Fische fühlende Wesen und könnten lauschen und vielleicht sogar sprechen.
»Ich danke dir«, sagte sie. »Wollen wir noch ein wenig über die Schwerter reden?« Jerrin neigte zustimmend den Kopf. »Man sagt, die Hexen wissen alles, was in der Stadt geschieht. Hast du davon gewußt, daß die Ismeninas seit geraumer Zeit Schwerter durch die Tore einschmuggeln und daß sie den Schwertkampf mit ihren Soldaten üben?«
Senta antwortete: »Wir haben davon gewußt.«
»Und ihr habt sie darin fortfahren lassen?«
»Was wünschst du? Was hätten wir tun sollen?« fragte Jerrin.
»Die Ismeninas für ni'chea erklären!« schlug Arré vor.
Jerrin gluckste. »Das würde die Stadt in zwei Lager spalten.«
»Dann diese Schwerter für ni'chea erklären.«
»Das haben wir. Der Bann ist noch gültig.«
»Kurzschwerter werden von dem Bann nicht erfaßt, und die Ismeninas bringen nur solche herein.«
»Dann soll der Rat erklären, daß auch die kurzen Schwerter unter den Bann fallen, und sie werden gebannt sein.«
»Wird der Weiße Clan den Rat darin unterstützen?«
Jerrins Stimme klang wie Seide. »Der Rat herrscht. Der Weiße Clan heilt, macht Wetter und spricht die Wahrheit. Ist der Rat denn abhängig von der Unterstützung durch den Weißen Clan?«
Arré packte den Kristallbecher so fest, daß sie fürchtete, er könnte zerspringen. »In dieser Sache, ja!«
Es herrschte Schweigen; ein zorniges Schweigen, soweit es Arré betraf. Sie war zu einem Eingeständnis gedrängt worden, das zu machen sie nicht beabsichtigt hatte. Die Stille wurde von dem lauten Lied eines Vogels durchbrochen. Ein roter Vogel stieß aus dem Himmel und landete an Sentas Füßen. Sie lächelte und streckte eine schöngeformte Hand aus. Der Vogel schüttelte sein Gefieder zurecht und flog aus dem Gras auf ihr Handgelenk, setzte sich und ließ sich sacht mit einem Finger streicheln. »Sie heißt Leeka«, sagte sie. »Seit zwei Jahreszeiten hat sie und ihr Gefährte sich ein Nest im Tanjo, in der Kuppel, gebaut.« Ihre Stimme klang: warm. Arré warf dem L'hel einen Blick zu und erstarrte. Er stierte die Frau und den Vogel mit wutverzerrtem Gesicht an. Dann bemerkte er Arrés Blick, und sein Gesicht wurde sofort wieder glatt, doch zu spät. Arré fragte sich, was er denn gegen die Zuneigung Sentas zu der Taube einzuwenden haben könnte. Sie hatte diesen gleichen Gesichtsausdruck früher schon einmal gesehen: auf dem Gesicht ihres Bruders; er verriet verletzten Stolz und bittere Eifersucht. Sie rieb sich die Arme, die sich plötzlich, trotz der heißbrennenden Sonne, wie von einem Frösteln durchronnen anfühlten.
Senta schnippte mit den Fingern in die Höhe. »Flieg, Leeka!« summte sie. Die Taube schoß in die Luft.
»Arré Med«, fragte Jerrin, »hast du jemals etwas von Zukunftssehen gehört?«
Und was kommt jetzt? dachte Arré. »Ich weiß, daß es eine Gabe der Hexen ist.«
»Weißt du, wie sie funktioniert?« Arré schüttelte den Kopf. »Hexen, die Dinge und Ereignisse sehen können, ehe sie geschehen, nennen wir Zukunftsseher oder Propheten oder Weissager. Es ist eine unsichere Gabe; wir verstehen sie noch nicht, und so kommt es, daß wir nicht wissen, wenn wir Dinge sehen, ob sie sich ereignen werden oder vielleicht nur ereignen können.«
»Aber wie könnt ihr ...« Arré
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