Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
hatte sie gefürchtet, Arré könne ihr doch noch befehlen, sie zum Tanjo zu begleiten, und an diesem Morgen hatte sie absichtlich sehr früh das Haus verlassen und war lange fortgeblieben, damit sie Arré nicht unter die Augen kam.
Arrés rechte Hand streckte sich, um die Armbänder zu berühren, die normalerweise an ihrem linken Handgelenk saßen. Aber da waren keine. »Also, warum habe ich ...« Sie lächelte. »Oh. Ich hab' mich schon gewundert, warum ich heute morgen die Armbänder fortgelassen habe. Es war, weil ich nicht leichtfertig und putzsüchtig erscheinen wollte. Leichtfertig! Pah!« Sie schnaubte. »Geh und hol sie mir, Kind!«
Sorren ging die Treppe hinauf und in Arrés Schlafzimmer. Sie holte die Armreifen aus der Schatulle, brachte sie Arré, die sie sofort über die Hand schob. Ihre Finger streichelten über den Reif mit dem Edelstein, das Geschenk Paxes.
»Setz dich doch, Kind!« sagte Arré. Sorren tat es. Sie fragte sich, ob etwas nicht stimmte. Arré neigte den Kopf. »Sag mir, Kind«, begann sie, »warum sollte ein Wahrheitsfinder mit dir sprechen wollen?«
Sorren wurde innerlich kalt. »Ich ... ich weiß es nicht«, stammelte sie.
»Bist du je einem begegnet?«
»Ja, einmal einer auf dem Markt.«
»Und wie hat sie ausgesehen?«
»Sie ... sie hatte schwarze Haare und eine wundervolle Stimme. Sie kam mit Kim Batto daher.«
»Senta«, sagte Arré. »Was hat sie zu dir gesagt?«
»Sie ... ich war ganz durcheinander, und sie hat mich gefragt, warum ich weinte. Sie hat mir Angst gemacht, und da bin ich weggerannt.«
»Hast du schon immer Angst vor den Hexenleuten gehabt?« fragte Arré. »Ich weiß, du hast meinen Brief an den L'hel nicht zum Tanjo tragen wollen – Sorren, hör auf so zu zittern!«
»Ich kann nicht«, wimmerte Sorren.
Arré beugte sich vor und nahm ihre Hände. »Du kannst!« sagte sie fest. »Sorren, die Hexen sind vielleicht fremdartig und seltsam, aber sie haben nie jemand was Böses getan, jedenfalls soweit ich weiß. Warum solltest du Angst vor ihnen haben? Gibt es etwas, was du besitzt oder tust, was sie verboten haben?«
Sorren schluckte. Das war schlimmer, als sie befürchtet hatte. Sie wagte nicht, Arré von ihren Visionen zu erzählen. Arré würde sicher wünschen, daß sie in den Tanjo gehe.
Aber sie hatte etwas, das sie herzeigen konnte: die Karten. Also sagte sie: »Ich ... ich werd's dir zeigen. Aber dazu muß ich rauf.«
»Dann geh!« sagte Arré und gab ihre Hände frei.
Sie trug die Schachtel herunter und legte sie in Arrés Schoß. »Dies ist der Grund«, sagte sie.
Arré öffnete die Schachtel und nahm die Karten heraus. Behutsam wickelte sie die rote Seide auf, nahm die erste Karte und wendete sie auf die Bildseite. Ihr Augenbrauen hoben sich. »Hah.« Sie drehte die zweite Karte um. Es war die webende Frau. »Was stellt das dar?«
»Meine Mutter hat sie mir vererbt«, sagte Sorren. »Sie kommen aus dem Norden. Es sind Wahrsagekarten.«
Arré drehte die dritte Karte um, die mit der schlafenden Frau. »Was meinst du damit, sie kommen aus dem Norden?«
Sorren erklärte, wie sie die Bilder der Karten in den Aufzeichnungen des Großvaters von Marti Hok gefunden hatten. »Sie stammen von Tornor Keep«, sagte sie. Tornor, wie fremd sich dieses Wort noch immer in ihrem Mund anhörte.
Arré strich sacht über die gemalten Bilder, genauso, wie sie eine Blüte im Garten zu berühren pflegte. »Sie sind schön«, sagte sie. »Warum hast du sie mir nie zuvor gezeigt?«
Sorren ließ den Kopf sinken. »Ich hab' gedacht, du nimmst sie mir weg. Es ist gegen das Chea, sie zu besitzen.«
»Weil es Wahrsagekarten sind? Aber sie gehören doch dir, mein Kind! Es sind Erbstücke.« Sie legte sie in die Schachtel zurück und faltete die rote Seide wieder über sie. »Kannst du sie benutzen?«
»Nein. Ich bin aus den Weingärten weggegangen – und dann, meine Mutter ist gestorben. Sie hat es mir nie gezeigt, wie man es macht.«
Arré seufzte. »Das war meine Schuld«, sagte sie. »Ich habe dich fortgeholt.« Sie hielt die Schachtel mit beiden Händen fest. »Ich glaube, du solltest lernen, wie man damit umgeht.«
»Wie und wo?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Arré und setzte den Deckel wieder auf das Kästchen. Dann reichte sie es Sorren. »Stell das fort, Kind!«
Sorren trug die Karten wieder hinauf.
Als sie ins Zimmer zurückkehrte, hatte Arré ihr Schreibzeug hervorgeholt und schrieb an einem Brief. Sorren schaute der Feder zu, die über das Papier
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