Die Chroniken der Nebelkriege 1: Das Unendliche Licht
befinden sollten, waren nur knorpelartige Auswüchse zu erkennen. Ihr Schädel wirkte, wie der Rest ihres Körpers, als sei er aus Fels gehauen. Ihre Glieder waren lang und missgestaltet und dort, wo sich die Gelenke befanden, stachen knöcherne Spitzen hervor. Dystariel bleckte ihre Reißzähne.
»Mach den Mund zu, Junge!«, stieß sie hervor. »Ich war einmal ein Mensch, so wie du.« Hastig tat Kai, wie ihm geheißen wurde. Er musste schwer schlucken, bevor er wieder sprechen konnte.
»Tut mir wirklich Leid, ich wollte nicht unhöflich sein«, krächzte er mühsam. Was hatte sie da eben gesagt? Sie war einst ein Mensch gewesen ?
Dystariel breitete einen Moment lang ihre großen, fledermausartigen Schwingen aus und stampfte langsam auf ihn zu. Kai blieb wie gebannt stehen. Erst jetzt bemerkte er, dass Dystariel einen spitz zulaufenden Schwanz besaß, der bei jedem ihrer Schritte tückisch hin und her pendelte. Sie hob mit einer ihrer langen Krallen sein Kinn an und musterte ihn mit ihren gelben Raubtieraugen.
Kai spürte, wie es in ihm rumorte. Alles in ihm schrie danach, das Tier von der Kette zu lassen.
»Gewöhne dich an meinen Anblick, Junge«, fauchte sie. »Und hüte dich davor, irgendjemandem von heute Abend zu erzählen. Die Verbindung zwischen mir und Thadäus ist geheim. Erwische ich dich dabei, dass du dich verplapperst, werde ich mich deiner persönlich annehmen. Dann wirst du dir wünschen, du würdest ebenso aus Stein bestehen wie ich.«
»Ihr . . . Ihr besteht aus Stein?«
»So gut wie«, sagte das monströse Wesen. »Aber eben nur so gut wie. Sicher wäre es Morgoya anders lieber gewesen.«
Fast zärtlich glitten ihre Krallen über sein Gesicht.
»Lasst das!«, sagte Kai aufgebracht und schüttelte ihre Klaue ab.
»Nicht schlecht, gar nicht schlecht. Thadäus, schau nur«, höhnte sie. »Der Kleine besitzt Kampfgeist.«
Kai sah ihr wütend nach, als sie sich wieder in einen der Schatten zurückzog. Wagte sie das noch einmal, dann würde er sie ...
»Dystariel ist eine Gargyle«, unterbrach ihn Eulertin bei seinen Gedanken und schwebte neben ihn. »Die Nebelkönigin Morgoya hat sie mithilfe ihrer verderbten Schattenkräfte ihres menschlichen Körpers beraubt und zu dem gemacht, was du heute vor dir siehst: zu einer fürchterlichen Waffe. Dystariel ist nicht die einzige ihrer Art. Morgoya hat in den letzten Jahren eine ganze Armada von Gargylen erschaffen.« Kai starrte den Magister an und presste die Lippen aufeinander. Die Vorstellung war erschreckend. Zugleich fragte er sich, wer Dystariel als Mensch gewesen war. »Du hast Dystariel bereits im Kampf erlebt«, fuhr der Däumling fort. »Gargylen sind nahezu unbesiegbar und Morgoya normalerweise treu ergeben. Einzig das Sonnenlicht vermag sie zu schwächen.« Kai beschloss, sich diese Information zu merken.
»Und warum seid Ihr dann auf unserer Seite?« Kai starrte Dystariel misstrauisch an. »Weil . . . ich rechtzeitig entkommen bin«, antwortete sie zögernd. »Deswegen.« Kai spürte tief in sich, dass dies nur ein Teil der Wahrheit war. Doch er wagte es nicht, weitere Fragen zu stellen. Für den Augenblick reichte ihm, was er erfahren hatte. Dystariel neigte ihren Kopf wie ein Vogel zur Seite. »Gut, dann wäre das erledigt. Ich vermute, du brauchst mich nicht mehr, oder ?«
»Ganz wie du willst, meine Liebe«, antwortete der Däumlingszauberer gefühlvoll. »Am besten, du versuchst weiter herauszufinden, wo die Kristallladung abgeblieben ist.« »Ich werde mein Bestes tun«, zischte die Gargyle. »Und du, Junge, sieh zu, dass du dich nicht wieder in Schwierigkeiten bringst. Auf dir ruhen große Hoffnungen.« Was sollte die Äußerung? Wollte sie sich über ihn lustig machen ?
Dystariel rauschte an ihnen vorbei und glitt in die Dunkelheit. Das Letzte, was Kai hörte, war ein leises Quietschen, dem ein kaum hörbares Klappen folgte. Dort hinten musste sich also eine weitere Geheimtür befinden.
»Ich hoffe, du weißt unser Vertrauen zu würdigen, Junge«, meinte Eulertin mit strengem Blick. »Und ich hoffe, es lehrt dich Vorsicht vor dem, was zwischen den Schatten lauert. Als Magier musst du stark sein und einen festen Willen besitzen. Die Mächte des Schattenreichs versuchen beständig, dich zu umgarnen und zu verderben. Sie locken dich mit unendlicher Macht. Doch gehst du einen Pakt mit ihnen ein, zahlst du einen teuren Preis dafür.«
»War das bei Morgoya ebenfalls so?«
»Sicher«, sprach Eulertin. »Nur weiß sie es
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