Die Chroniken der Nebelkriege 3: Die Letzte Flamme
seinem Innersten. Kraftvoll strich sie über die Ruinen. Kai glaubte plötzlich, Vögel zwitschern, Wasser plätschern und das Rauschen von Bäumen hören zu können und verspürte den Wunsch, sich von der Melodie wie ein Blatt im Wind davontragen zu lassen. Auch Olitrax sah gebannt auf. Endlich beugte sich Fi vor und tauchte das Mondsilberamulett in das lichterloh prasselnde Feuer der Ewigen Flamme. Der Glyndlamir glühte rotsilbern auf, und die Welt um sie herum veränderte sich, als habe Fi einen Stein in einen See geworfen, dessen Oberfläche nun kreisrunde Wellen schlug. Nichts war mehr wie zuvor. Bilder wogten ihm entgegen, brandeten wie schaumige Gischt über das Plateau hinweg und schoben sich über die Mauerreste. Um ihn herum schälten sich die transparenten Konturen von lichten Gebäuden aus der Luft und überall ragten nun blasse, himmelwärtsstrebende Säulen empor.
Plötzlich waren leise Stimmen zu hören. Jemand lachte, irgendwo ertönte der Klang einer Harfe und einen Moment lang glaubte Kai, neben einem der Monolithen einen Elfen stehen zu sehen. Das traumhafte Bild flackerte, doch Kai konnte erkennen, dass der Fremde ein lichtes Gewand mit dem Emblem einer Flamme trug, das von einem Sonnenkranz eingefasst wurde. Kai blinzelte. Das geisterhafte Bild wich, und er entdeckte stattdessen eine Gruppe Magier in derselben Tracht, die um ein aufgeschlagenes Buch herum saßen und ernst miteinander diskutierten. Erst jetzt bemerkte er, dass Fi ihr Lied beendet hatte.
»Fi, was geschieht hier?«
Die Elfe trat neben ihn und schaute mit einem feierlichen Gesichtsausdruck zu einer Terrasse, auf der durchscheinende, silbrig glitzernde Obstbäume standen. »Hier wirkt die Kraft der Träume«, sprach sie. Der Glyndlamir lag wieder um ihren Hals und noch immer ging von ihm ein schimmernder, rotsilberner Schein aus. »Der Sonnenrat mag heute zerstört sein, doch der Glyndlamir ermöglicht es uns, einen Blick auf ihn zu werfen, so wie er früher war. Er birgt die Träume und Erinnerungen jener, die vor uns den Glyndlamir gehütet haben. Verstehst du?«
Kai sah sich fassungslos zu den transparenten Häusern, Säulenhallen und Arkaden um, die das Ruinenfeld wie ein Geisterreich wirken ließen. Herrje, die Wunder des heutigen Tages wollten kein Ende nehmen.
»Und wie soll uns das helfen?«, fragte er.
»Ich weiß es noch nicht, aber sieh doch. Da hinten ist ein Bauwerk zu sehen, das irgendwie ... wirklicher aussieht, als die restlichen Traumgebäude.« Fi deutete zu einer prachtvollen Halle, dessen Front von glitzernden Säulen gestützt wurde. Zwar bot die Halle einen Anblick, als bestünde sie aus goldbestäubtem Milchschaum, doch war sie weit weniger durchscheinend, als alles andere um sie herum. Seltsam. Kai ließ seinen Blick zum Horizont schweifen und bemerkte, dass die Wolkendecke rund um den Berg dunkler geworden war. Offenbar neigte sich der Tag langsam dem Ende entgegen. Der Feuerschein der Ewigen Flamme stach inmitten des Zwielichts besorgniserregend hell hervor und musste trotz des Nebels über dem Talkessel gut zu sehen sein. Sie konnten nur hoffen, dass sich die Strigen inzwischen weit entfernt hatte. Dennoch würde es sicher nicht lange dauern, bis Morgoya erfuhr, was sich hier oben auf dem Berg zutrug.
»Gut, lass uns nachsehen, was es damit auf sich hat.« Kai hieß Olitrax aufzusteigen, und gemeinsam durchquerten sie das Trümmerfeld, bis sie direkt vor dem eigentümlichen Traumgebäude standen. Auf einem Relief über dem Eingang waren von Blumen umkränzte Pergamentrollen zu sehen.
»Die Bibliothek«, meinte Fi und lachte. »Begreifst du, Kai. Welches Wissen der Sonnenrat über all die Jahrhunderte auch zusammengetragen hat, hier wurde es gesammelt. Das kann kein Zufall sein.«
»Können wir da denn überhaupt reingehen ?«
Die Frage beantwortete sich von selbst, als Olitrax direkt durch die Front des Traumgebäudes hindurchstieß und nicht mehr zu sehen war. Fi zwinkerte Kai zu und tat dasselbe. Es war, als würde sie durch Rauch schreiten.
Kai folgte ihr und musste aufpassen, nicht sogleich über einen der Felsen zu stolpern, die immer noch sehr real aus dem Untergrund aufragten. Staunend sah er sich in der Empfangshalle der Traumbibliothek um. Die Wände schimmerten leicht golden. Nebelhafte Türen zweigten von hier aus ab, und es herrschte geisterhafte Stille, die nur hin und wieder vom fernen Gesäusel des Windes durchbrochen wurde. Offenbar schirmte die elfische Traummagie auch die
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