Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
Schatten waren nah, und als er durch die Stäbe trat, die sich auf seiner Haut zu glühendem Metall verformten und ihn passieren ließen, nur um sich gleich hinter ihm wieder zu schließen, fühlte er die Stimmen der Toten. Keinen von ihnen hatte er zwischen den Klauen zerrieben, keinen ausgeweidet oder von seinen Schergen zerreißen lassen. Aber das war ohne Belang. Sie fürchteten ihn dafür, dass er es hätte tun können, und sie duldeten ihn, da seine Finsternis ihnen dennoch näher war als jedes unsterbliche Licht.
Ligur landete hinter ihm auf dem Boden. Die Klaue des Hungers gierte danach, dem Mönch das Herz aus der Brust zu fressen, und Pherodos spürte sie selbst: die unwiderstehliche Gier, die immer kurz vor einer Gewalttat in ihm aufpulste. Doch dieser Engel war zu mächtig, als dass sie ihn einfach hinterrücks überfallen konnten. Er hätte ihnen tiefe Wunden geschlagen und gleichzeitig die Ritter der Garde zu Hilfe gerufen, die Rom durchstreiften, als würden sie ahnen, dass die Leiber der Finsternis sich erneut zusammengefügt hatten. Pherodos ballte die Klauen. Er musste sich gedulden. Sein Moment würde kommen.
Lautlos folgte er dem Engel über die Wege des Friedhofs. Er konnte die bleiche Haut riechen und die schwarzen, eingerissenen Nägel, unter denen sich das Blut Sterblicher gesammelt hatte. Wenn die Menschen ahnen würden, welche Kreaturen sich mit dem Namen Engel schmückten, würden sie auch den letzten Rest ihres kümmerlichen Verstandes verlieren.
Der Schwingenschlag der Krähe zerriss Pherodos’ Gedanken wie ein wortloser Befehl. Sie landete auf dem Kuppeldach einer Kapelle, tiefschwarz glitt Raars Schatten über die Wipfel der Bäume und wurde von den Kronen verschluckt. Ligur huschte im Zickzack zwischen den Grabsteinen weiter an den Mönch heran, aber Pherodos wusste, dass der Engel sie bemerken würde, sobald sie sich ihm zu stark näherten. Dennoch verließ auch er den Weg und trat zwischen den moosüberwucherten Grabsteinen hindurch. Er roch den Duft frisch aufgehäufter Erde. Junges Blut hatte sie getränkt, fast meinte er, dessen Wärme noch spüren zu können. Er blieb hinter einem steinernen Friedhofsengel stehen und witterte. Kinder. Die Leiber von Krankheit und Gewalt zerfressen, ruhten sie zu seinen Füßen, und dort an den neuen Gräbern hockte der Mönch. Beinahe sah er selbst aus wie eine Statue in seiner Kutte, die Schwingen hoch hinter sich aufragend, aber etwas Lauerndes ging von ihm aus, das diese Illusion zerstörte. Pherodos spürte das Verlangen in dem Leib dieses Sklaven, die Gier nach der Roten Kraft, die noch in den jüngst Verstorbenen lag. Er sah zu, wie der Mönch mit bleichen Händen über die Erde strich. Verlogenes Pack , schoss es ihm durch den Kopf. Ihr seid nicht weniger Tier als wir.
Kurz hielt der Engel inne. Er lauschte, als hätte er Pherodos’ Gedanken gehört. Dann beugte er sich vor und grub die Hände tief in die Erde.
Seine Stimme kratzte wie vertrocknetes Laub über die Grabsteine, und Pherodos fühlte die Macht des Zaubers, die der Mönch ins Erdreich sandte. Sie durchdrang die Leiber der Toten und raubte ihnen das Laskantin, das als rötlicher Nebel aus der Erde stieg. Für Augenblicke legte er sich über die unsichtbaren Körper jener Menschen, die einst an diesen Gräbern geweint hatten. Die Erde hatte sie nicht vergessen und schuf ihre Schemen so leibhaftig nach, dass Pherodos meinte, Fleisch und Blut unter den roten Schleiern riechen zu können. Laskantin, verfluchtes rotes Gold, Suchtstoff der Engel. Der Mönch sammelte es für seine Brüder, um ihnen die Existenz jenseits des Lebens zu erleichtern. Wie schwach waren sie, dass sie dies nötig hatten!
Ohne jedes Geräusch trat Kymbra hinter der Kapelle hervor. Ihr Körper war noch sichtlich geschwächt, tiefe Wunden zogen sich über ihre Arme und ihre linke Gesichtshälfte. Die rote Farbe des Laskantins schimmerte in ihren Augen und versöhnte ihr verletzliches Äußeres mit dem dämonenhaften Wesen, das in ihr lag. Etwas wie Hingabe lag in ihrem Blick, als sie unbemerkt von dem Mönch stehen blieb und zusah, wie er langsam die Arme hob. Ein plötzlicher Windstoß fegte durch die Schemen und trieb die roten Schleier auf den Engel zu, der nun aufstand. Sie drangen in ihn ein, leise und doch von einer Kraft, dass er zusammenfuhr. Auf seinem sonst so ausdruckslosen Gesicht flammte eine tiefe Ergriffenheit auf.
Pherodos spannte die Muskeln an. Noch spürte er die Wachsamkeit des
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