Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
herabschaute. »Ich sagte dir, dass du dein Ziel nicht aus den Augen verlieren darfst, sobald du es gefunden hast. Erinnerst du dich?«
Nando keuchte, denn immer noch sank er tiefer, hinab in Glut und Kälte einer Wüste, die alles war und zugleich nichts. Doch der Engel schien sich nicht dafür zu interessieren.
»Nichts darf dich von deinem Ziel abbringen«, fuhr er fort. »Du weißt das, und doch handelst du anders. Warum hast du deinen Weg verlassen, Sohn eines Menschen? Aus welchem Grund sinkst du tiefer in meinen Zauber, der dich ersticken wird, wenn du mir keine Antwort gibst?«
Zäher Husten kam über Nandos Lippen. Sein Hirn war vollkommen leer, aber in diesem Moment durchdrang ein Kinderschrei die Luft, und vielleicht war er es, der das Wort von seiner Zunge riss.
»Mitgefühl«, brachte er hervor. Verzweifelt schlug er beide Hände in den Sand, gleich würde er gänzlich versinken.
Hadros schnaubte verächtlich. »Ich höre die Stimme deines einstigen Mentors aus deinem Mund. Antonio hat dich vieles gelehrt, doch nun ist es Zeit, die Schatten hinter dir zu lassen, in die er sich aus freien Stücken begeben hat. Er kehrte seinem Volk den Rücken, manche sagen, er verriet es, und ganz gleich, ob ich ihnen recht gebe oder nicht: Auch er zeigte Mitgefühl – mit dir! Und was ist aus ihm geworden?«
Nandos Kehle zog sich zusammen, als er den kühlen Blick des Engels auf sich fühlte und Antonio noch einmal tödlich verwundet zu Boden fallen sah. Doch ehe das Bild sich vor seinen Augen verfestigte, fuhr Hadros fort.
»Im Sand dieser Wüste ruht das Blut meines Volkes«, sagte er dunkel. »Der Wind über den Dünen wird von dämonischen Stimmen getragen, und beides kann dich den Verstand kosten, wenn du dich nicht dagegen wehrst. Du bist Sandgeistern gefolgt, weil du dich von Dingen leiten lässt, die dich das Leben kosten werden. In der Welt der Dämonen ist die Moral der Sterblichen fehl am Platz, ebenso wie in der Welt der Engel. Lerne es schnell, Menschenkind, oder es wird dich das Leben kosten.«
Mit diesen Worten ging Hadros vor ihm in die Knie. Für einen Moment hatte Nando die Hoffnung, dass er ihn befreien würde, doch er legte nur die Hand in seinen Nacken und sah ihn aus seinen Spiegelaugen an. »Du trägst große Macht in dir«, raunte er eindringlich. »Und einen starken Willen. Doch deine Gedanken umfließen dich, und deine Gefühle sind für mich so greifbar wie Hagelkörner auf meiner Haut. Du wurdest in der Lehre der Engel unterwiesen, aber noch bist du nicht bereit, der Gefahr zu begegnen, die die Wüste des Lichts birgt, geschweige denn, ein Schwert namens Bhalvris zu führen.«
Nando spürte die Kälte, die aus den Fingern des Engels in ihn hineinströmte. Sie linderte seine Furcht und ließ das Licht seines Oreymons so stark wie nie zuvor in ihm aufbrechen. Aufatmend ließ er sich hineinfallen wie in eine rettende Kühle. Aber Hadros sah ihn streng an, und er wusste, dass sein Körper noch immer abwärtssank. Der Engel würde ihn sterben lassen in dieser Wüste, wenn er sich nicht selbst rettete, daran bestand kein Zweifel.
»Du hast vom Licht meines Volkes gekostet«, sagte Hadros. »Und bislang genügte das, um dich vor dem Untergang zu bewahren. Doch jetzt ist das vorbei. Die äußeren Gefahren sind zu mächtig. Daher musst du aufhören, dich in deinen Oreymon zu begeben. Du musst dieser Raum sein . Ich weiß, dass du dich danach sehnst, seit du zum ersten Mal sein Licht gefühlt hast, und ich kenne die Furcht, die dich daran hindern will. Aber du darfst ihr nicht folgen. Stattdessen – ergib dich dem Licht!«
Damit zog er seine Hand zurück. Sofort spürte Nando wieder den Druck auf seinem Körper, der seine Gedanken zu Staub zerrieb, aber er grub seine Hände tief in den Sand der Wüste, den Stein Bantoryns, die Felsen der Brak’ Az’ghur, und rief ein Bild vor sein inneres Auge: das Bild der Sphinx, die ihm im Licht des Portals erschienen war. Ihr Anblick brachte jede Verwirrung, jede Unruhe mit einem einzigen Schimmer zum Schweigen, und als die Furcht vor der Kälte in ihm aufwallte, schüttelte er den Kopf. Diese Kälte erhielt ihn am Leben. Sie trennte ihn von nichts – sie machte ihn frei!
Entschlossen jagte er durch seinen Oreymon, glitt tiefer hinab in das Licht und brachte jeden Gedanken an Furcht zum Erlöschen. Er flog durch Schleier aus Licht, eiskalte Schleier, die ihn schneller und schneller werden ließen, spürte, wie sein Oreymon mächtiger wurde, seine
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