Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
fuhr Noemi fort. »Er brennt wie Feuer, aber er lebt nicht – er ist so tot, Avartos, dass ich es nicht ertragen kann.«
»Doch«, erwiderte er ruhig. »Das wirst du. Du bist eine Kriegerin der Schatten, und solange ich dich ansehe, wirst du nicht vor einem Licht wie diesem auf die Knie fallen.« Er hatte leise, aber voller Überzeugung gesprochen. Die Worte hatten sich auf seiner Zunge gebildet, ohne dass er zuvor gewusst hatte, was er Noemi sagen sollte. Doch als er nun zusah, wie ihr Sinn sich in Noemis Augen entfaltete, glitt ein Lächeln über seine Lippen. »Das Licht ist ein Fluch, ebenso wie die Schatten es sind. Aber du wirst lernen, damit zu leben, und sei getröstet: Anders als ein Fluch, der dich nicht mehr verlässt, wenn er dich einmal befallen hat, trägst du das Licht nur für die Dauer dieser Reise in dir. Du wirst dich daran gewöhnen.«
Leichter Spott zog über ihr Gesicht. Er wusste, dass sie die Spritze bemerkt hatte, die auf der Pritsche lag, und aus irgendeinem Grund schämte er sich dafür. Und du? , meinte er sie zu hören. Hast du dich an das Licht gewöhnt? Doch als sie sich abwandte, wich der Hohn von ihren Zügen.
»Ich fürchte mich vor der Wüste«, sagte sie. »Sie ist zu grell für jemanden wie mich.«
Er schüttelte den Kopf. »Es gibt kein Licht der Welt, dem du nicht gewachsen wärest«, erwiderte er sanft. »Und die Wüste … Sie war nicht immer so wie jetzt. Einst war sie ein Ort des Lebens und der Vielfalt, ehe Krieg und Verderben über sie kamen, und manche sagen, dass sie noch immer im Sand der Dünen ruhen: die Farben der Nachtwälder, die in früheren Zeiten die Hügel bedeckten, das Silberlicht des Mondes, das sich auf reglosen Seen brach, und die Gesänge der Kinder, die im Sonnenschein spielten, unbeschwert und frei. Die Wüste des Lichts ist kein Ort des Todes. Das war sie nie, und sie wird es niemals sein.« Und er begann von den Armeon Rhay zu erzählen, den Landen der Farben, die einst in weitem Umkreis von Nhor’ Kharadhin gelegen hatten, und seine Worte formten sich wie Sandbilder im Dunkel des Fensters. Er konnte die Blätter des Flüsterwaldes auf seiner Haut spüren, hörte die Stimmen der Geister, die in den Hainen rund um den See des Rhios hausten, und er schmeckte die Süße der Beeren auf den Lippen, die jenseits der schmalen Pfade der Kharail-Schlucht wuchsen. Lange, lange war es her, seit er mit nackten Füßen über die Felsen eines tiefschwarzen Meeres geklettert war. Ein Meer aus Tränen war es, so sagten es die Legenden, aber er hatte es immer geliebt, und er erzählte Noemi von den geheimnisvollen Wellen und von dem Wind, der viel später über Felder aus Staub geglitten war auf der Suche nach dem verschwundenen Meer. Selbst dieser Wind trug den Zauber der Armeon Rhay in sich, und er fuhr Noemi ins Haar, dass sich eine Strähne löste und seidenweich auf Avartos’ Hand fiel. Er schaute darauf, als hätte ihn ein Ruf aus einem Märchen geholt, kurz bevor es böse geendet hätte.
»Es muss schön gewesen sein, in den Armeon Rhay aufzuwachsen«, sagte Noemi, während sich die Sandbilder im Fenster zu geheimnisvollen Figuren verbanden.
Avartos nickte langsam. »Wenn es jemals wahre Schönheit gab in meiner Kindheit, dann habe ich sie dort erlebt. Aber meine Erinnerungen sind bruchstückhaft, und für eine Weile waren sie ganz in mir vergraben. Erst als ich Nando begegnete, tauchten sie langsam wieder auf, und jetzt sind sie so deutlich, als wäre dies alles eben erst geschehen … oder als wäre ein Teil von mir noch immer dort, hoch oben in der Burg Oreid über einem tiefschwarzen Meer.«
Und noch während er die Worte aussprach, hörte er das Rauschen der Wellen und die Lieder, die über sie hinwegflogen, und er spürte die Sonne auf seinem Gesicht so deutlich, als würde er gerade noch einmal in jenes Zimmer treten und die Strahlen im Haar seiner Mutter sehen. Er hatte nie sicher sagen können, ob es ihre Wärme gewesen war, die ihn bei diesem Anblick durchströmt hatte, oder etwas anderes, für das er niemals ein Wort gefunden hatte und das doch tiefer ging – so tief, dass es ihm Angst machte.
Instinktiv wollte er sich nach der Spritze umdrehen, doch Noemis Worte hielten ihn zurück. »Die Musik ist wunderschön«, sagte sie mit einer Sicherheit in der Stimme, als würde sie die Lieder kennen, die über die Wellen tanzten – als wären sie ihr schon einmal begegnet, an einem anderen Ort. Sie schaute Avartos an. Die Ra’fhi kannten alle
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