Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
ziehen an dem Ort, an den sie nun gingen. Die Präsenz des Engels ließ das Licht des Schreins aufglimmen und formte es zu einem Portal. Gleißende Ströme flossen darüber hin, und Nando konnte sich nur im letzten Moment davon abhalten, die glimmende Oberfläche zu berühren. Sein Mund war staubtrocken. Er wusste, wohin dieses Portal sie führen würde, und der Gedanke daran löschte jeden anderen aus.
»Ihr kennt Geschichten über die Wüste des Lichts«, sagte Hadros dunkel. »Aber selbst du, Avartos, bist noch nie so weit vorgedrungen, wie wir es nun vorhaben. Diese Reise kann jeden von uns das Leben kosten, und es wird euch nicht helfen, wenn ihr euch sagt, dass ihr keine andere Wahl habt. Wenn ihr das auch nur denkt, wird es euch innerlich zerfressen. Daher frage ich euch: Seid ihr bereit, die Wüste zu betreten? Seid ihr bereit für die Opfer, die sie euch abverlangen wird, und für alles, was ihr sehen werdet, ob in euch selbst oder der äußeren Welt? Seid ihr bereit, dem Licht mit Ehrfurcht und Stolz entgegenzutreten?«
Nando betrachtete das Portal, und für einen Moment stand er wieder vor dem mächtigen Tor der Sphinx. Eiskalt war ihr Gesicht gewesen, der Schein ihrer Augen so hell, dass er zitterte, wenn er daran dachte, und doch … Er bewegte die Finger und meinte, Eissplitter an ihnen fühlen zu können. Er hatte die Wüste in ein gefrorenes Meer verwandelt, war es nicht so? Und dieses Meer trug er noch immer in sich. Er konzentrierte sich auf dieses Bild und nickte unmerklich. Er war bereit für alles, was die Wüste ihm offenbaren würde. Auch Avartos neigte zustimmend den Kopf, ebenso wie Noemi und Kaya. Hadros hielt kurz inne, Nando schien es, als würde er sie mit seinen Maskenaugen ansehen wie ein Vater, der das einzige Kind in eine unbekannte Fremde entließ. Dann stieß Hadros einen Laut aus, melodisch wie ein Abschiedsgruß. Die Mönche fingen ihn auf und gaben ihn zurück, und Nando hörte erstmals etwas wie Wärme in ihren Stimmen. Dann trat Hadros vor, und Nando folgte ihm durch das Portal.
Er rechnete damit, dass er sich auf einer Düne wiederfinden würde oder vielleicht in einem Zelt der Ukarem’ Xhey, Nomaden, die die Wüste bewohnten, und erwartete die tiefe, durchdringende Stille, von der er schon so viel gelesen und die er in Visionen erfahren hatte. Aber stattdessen brüllte ihm, noch ehe der Glanz vollständig von seinem Körper gewichen war, jemand lautstark in einer fremden Sprache ins Ohr, ein anderer trampelte ihm auf den Fuß, und er bekam einen Ellbogen in die Seite, dass ihm die Luft wegblieb.
Hustend taumelte er vor und stellte fest, dass er sich mitten auf einem orientalisch anmutenden Markt befand. Häuser aus hellem Sandstein und schmale Gässchen lagen ringsherum, bunte Lampions hingen vor dem Nachthimmel, und darunter, so dicht beisammen, dass die Besucher mitunter nur seitlich vorankamen, drängten sich Stände mit den vielfältigsten Waren. Kräuter, Kleidung, Tiere, Waffen, aber auch Lebensmittel, Gewürze und Teesorten wurden feilgeboten. Die Luft schwirrte von exotischen Gerüchen und Sprachen, und die Besucher waren in so bunte Gewänder gehüllt, dass sie den Lampions Konkurrenz machten. Engel waren es, ohne jede Frage, aber in ihren Augen lag die Glut der Wüste ebenso wie ihre Tücke. Ihre Haut war gegerbt von ihrer Grausamkeit und ihre Gesichter gezeichnet von der Schönheit, die sie barg und die jeder Besucher dieses Marktes schon einmal gesehen hatte. Der warme Wüstenwind trieb die ersten Sandkörner über Nandos Haut, und er erinnerte sich an den Namen der Stadt, in die er geraten war: Lhafar wurde sie genannt, und sie war die letzte Bastion vor dem Inneren Kreis der Wüste – hinter ihr gab es nichts mehr als endlose Wellen aus Sand.
Ohne ein Wort setzte Hadros sich in Bewegung, drängte sich geschickt durch das Gewühl und hielt erst vor einer heruntergekommenen Herberge am Rand des Marktes inne. Rauch quoll unter der Tür hervor, und Nando nahm den würzigen Duft von gebratenem Fleisch wahr. Gerade wollte Hadros die Tür öffnen, als Avartos ihn daran hinderte.
»Es wundert mich nicht, dass Ihr Euch die schäbigste Absteige der Stadt aussucht«, sagte er. »Aber Euch sollte aufgefallen sein, dass man es zumindest zweien von uns ansehen kann, dass sie noch nie in der Wüste waren, und ich kenne den Pöbel Lhafars, der sich gern einen Spaß mit Unwissenden erlaubt. Meint Ihr nicht, dass wir Gefahren vermeiden sollten, wenn wir die Möglichkeit
Weitere Kostenlose Bücher