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Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)

Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)

Titel: Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
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Geschichten der Welt , flüsterte sie sanft. Dann schwieg sie, und etwas lag in ihrer Stille, das ihn bleiben und die Bilder betrachten ließ, die nun aus der Nacht des Fensters brachen. Es waren Gegenden der Unterwelt, die er noch nie gesehen hatte. Verlassene Dörfer in kargen Höhlen, Gänge, die geheimnisvoll leuchteten, und Felder mit schneeweißen Blüten weit unter den Straßen Roms, die so friedlich wirkten, als hätten sie nie erlebt, was Krieg bedeutete oder Verzweiflung oder Tod. Noemi sagte kein Wort, aber Avartos spürte, dass sie an all diesen Orten gewesen war, Juwelen der Schattenwelt, die einem Sklaven des Lichts wie ihm auf ewig verschlossen bleiben würden, und er schauderte, als Bantoryn in dem Fenster entstand, die Stadt der Nephilim, die auf seinen Befehl hin zerstört worden war.
    In Noemis Erinnerung jedoch erhob sie sich in Schönheit, und ihre Bewohner traten aus den Schatten. Lehrer, Freunde, Gefährten auf Noemis Weg, und sie alle trugen das Mal des Todes auf der Stirn: Sie alle waren unter der Faust der Engel gefallen. Noemis bester Freund, dem sie die Hand gehalten hatte, als er starb, ihre Mutter, die in den Brak’ Az’ghur erschlagen worden war – und Silas, ihr Bruder, der unter Avartos’ Kommando sein Leben verloren hatte. Er schaute in die reglosen Gesichter seines Volkes und konnte erahnen, wie schmerzhaft das Licht in Noemi brennen musste. Er verabscheute sich selbst, als er sie vor sich sah, ihre Hand an der Wange ihres toten Bruders, der für sie, für die Nephilim, für die Freiheit gestorben war, und dieses Gefühl wurde so übermächtig, dass Avartos sich abwenden wollte. Doch da sah sie ihn an.
    Kein Zorn lag auf ihren Zügen, kein Hass, nicht einmal Abscheu, sondern ein stilles, unendlich trauriges Verständnis für die Wüste, aus der er gekommen war, jene Wüste, die auch in ihr lag und aus der es kein Entrinnen mehr gab, wenn man einmal hineingeraten war. Sie hatte die Lieder über den Wellen gehört – wie er selbst. Er streckte die Hand nach ihr aus, er wusste selbst nicht warum, aber ihr Haar war weich unter seinen Fingern, und auf einmal standen sie gemeinsam am Grab ihres Bruders oder in einem sonnendurchfluteten Zimmer hoch über einem tiefschwarzen Meer. Avartos erinnerte sich gut an diese Wärme, und als er sie in Noemis Körper sandte, um den Schmerz der Kälte zu lindern, da glitt ein samtenes Stück ihrer Nacht in ihn selbst hinein, das jede Furcht für einen endlosen Augenblick schweigen ließ. Wie verzaubert sah er Noemi an und fühlte mit aller Kraft, dass auch in dieser Wüste mehr lag als Kälte und Glut. Mochte sie umgeben sein von Tod und Verzweiflung, mochte sie brennen in eiskaltem Feuer, doch in ihrem Kern war sie mehr als das. In ihrem Kern war das Leben.
    Avartos wusste nicht, wie lange sie so gestanden hatten. Erst als Noemi lächelte, bemerkte er, dass seine Hand noch immer an ihrem Haar lag. Ehe er sie fortziehen konnte, hielt Noemi sie fest und strich zärtlich über die unsichtbaren Narben an seinem Unterarm. Ein Schauer flog über seinen Rücken, doch er fand keine Verachtung in ihren Augen, und als er viel später die Spritze mit dem Laskantin unbenutzt entsorgte, sah er noch immer Noemis Lächeln vor sich, dieses sanfte Lächeln, das jeden Schutzwall so leicht durchdringen konnte. In stiller Wärme glomm es in seiner Brust, und Avartos wunderte sich nur kurz darüber, wie leicht es mitunter war, die Kälte zurückzudrängen und sie gemeinsam mit der Furcht zum Teufel zu schicken. Manchmal brauchte es dafür Disziplin, Willensstärke, die Rote Kraft … und manchmal nicht mehr als ein Lächeln oder eine weiche Haarsträhne auf einer Hand aus Eis.

27
    Erhabenes Schweigen erfüllte den Hauptsaal des Klosters. Einzig der Schrein auf dem Altar glomm in silbrigem Licht und erhellte die Gestalten der Mönche, die sich in zwei langen Reihen vor ihm aufgebaut hatten. Es hatte etwas Unheimliches, wie sie in mechanischer Gleichzeitigkeit die Köpfe zum Eingang wandten.
    Nando zeigte keine Regung, als er mit den anderen auf den Schrein zutrat. Hadros ging ihnen voraus. Er bewegte sich hoheitsvoll an den Mönchen vorüber, und kaum dass er sie passierte, glommen goldene Funken in ihren Augenhöhlen auf. Er selbst hatte seinen Augen mit einem Zauber den Anschein gegeben, als könnten sie noch immer sehen. Sein Gesicht hatte er in das eines hageren Kriegers verwandelt und sein Haar mit grauen Strähnen durchsetzt, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu

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