Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
diesem Gedanken wuchsen einst berühmte Bauwerke des Lichts aus dem Sand. Nando ließ den Blick über die Türme der Geteilten Steppe gleiten, die so hoch hinaufragten, dass ihr Ende nicht zu sehen war, betrachtete die Brücke aus geschliffenem Kristall, die über den Scherbenfluss führte, und hielt den Atem an angesichts der Schönheit schwebender Paläste, die einst über dieser Ebene in der Luft gestanden hatten. Ein tiefes Grollen ging durch den Boden, und Nando begriff mit einem Schlag, was er da hörte: Es war der Donner der Ersten Zeit, der die Gebirge aus dem Boden gestampft und Kontinente auseinandergerissen haben sollte – jener Donner, den nur die Ersten Engel tatsächlich gehört hatten.
»Ja, Sohn der Hölle«, sagte Hadros, ohne ihn anzusehen. »Wir haben unser Ziel erreicht. Dies ist das Reich eines Cor Wanoy, eines uralten Engels.«
Der Jäger hielt inne, sein Blick schien durch die tanzenden Schleier zu dringen, als wären sie für ihn nicht mehr als klares Glas.
»Aber wie finden wir die Pforte?«, fragte Noemi. »Es kommt mir so vor, als wären wir schon ewig in dieser Düsternis unterwegs.«
Erst in diesem Moment fiel Nando auf, dass sie recht hatte. Erschöpfung saß ihm in den Knochen, die jetzt, da er sie erkannt hatte, auch von den faszinierenden Bildern um ihn herum nicht mehr gelindert wurde. Er rechnete mit einer Antwort von Hadros, doch es war Avartos, der das Wort ergriff. Reglos saß der Engel auf seinem Reittier.
»Gar nicht«, erwiderte er leise. »Sie wird uns finden.«
Nando sah ihn von der Seite an, und für einen Moment wollte er Avartos auf die Tonlosigkeit in seiner Stimme ansprechen, ganz gleich, ob sie noch immer in der Wüste waren, die dem Engel mit tausend vergessenen Erinnerungen zusetzte. Er wollte ihn fragen, was er empfand, wenn er an die Burg Oreid dachte und an seine sterbende Mutter, er wollte ihm die eiskalte Maske vom Gesicht reißen, die ihn in einen Fremden verwandelte. Doch Avartos sah ihn an, und da wusste Nando, dass keines seiner Worte den Engel erreichen würde. Selbst sein Blick glitt von dem makellosen Antlitz ab wie Regen.
Noemis Reittier stieß ein Schnauben aus und wich vor einem Schemen aus Sand zurück, das mit geisterhaften Fingern nach seinem Haar griff. Die Trugbilder wurden düsterer und tasteten unheilvoll nach Nandos Sinnen.
»Aber wir sind im Reich eines Cor Wanoy«, sagte Noemi. Die Ruhe in ihrer Stimme passte nicht zu dem festen Griff, mit dem sie die Zügel hielt. »Es ist gefährlich hier, und er wird uns schon längst bemerkt haben. Was, wenn er ein Spiel mit uns spielt? Was, wenn er uns sterben sehen will?«
Kaya zitterte in ihrer Geige, und Nando konnte es ihr nicht verdenken. War es möglich, dass er den Cor Wanoy nicht einmal zu Gesicht bekam, ehe er im Sand seines Reiches zu Staub wurde? Hadros sah Noemi an, und noch ehe er antwortete, wusste Nando, was er sagen würde.
»Dann wird es geschehen«, erwiderte er nur.
Seine Stimme war vollkommen ruhig, und aus irgendeinem Grund musste Nando plötzlich an einen Pfarrer denken, den er einmal getroffen hatte. Er war todkrank gewesen, aber noch wenige Wochen vor seinem Tod hatte er eine ungeheure Gelassenheit und Sanftmut ausgestrahlt, und Nando hatte ihm geglaubt, als er sagte, dass er sich nicht vor dem Sterben fürchtete. Er war stark in seinem Glauben gewesen, und er hatte darauf vertraut, dass Gott ihn halten würde, was auch immer geschah. Nando war nie im christlichen Sinn gläubig gewesen, und seine Reise in die Welt der Schatten hatte daran wenig geändert. Doch dieses Zutrauen in eine Kraft, die möglicherweise mächtiger war als alles, was er je kennenlernen würde, hatte ihn schon damals beeindruckt, und etwas Ähnliches fühlte er nun auch in Hadros. Die Bilder um ihn herum verbreiteten eine beängstigende Stille, aber etwas von der Gelassenheit des Kriegers ging nun auf ihn über.
Kurz lauschte Hadros auf das Donnern, das auf einmal dumpf klang, als wäre es weiter entfernt. Schließlich nickte er. »Wir werden hier rasten.«
Unschlüssig wechselte Nando mit Noemi einen Blick, aber Hadros sprang tatsächlich von seinem Reittier und machte sich daran, ein Feuer zu entfachen. Wenig später saßen sie dicht bei den Flammen, und Nando begann die Feuer der Karawane zu vermissen und die lustigen Lieder der Barden. Verstohlen sah er zu Avartos hinüber, der vollkommen reglos in die Flammen starrte. Nicht alle Lieder der Barden waren lustig gewesen.
Sie aßen schweigend,
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