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Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)

Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)

Titel: Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
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Ein brennender Schmerz durchzog seine Brust, und ihn überkam das Gefühl, etwas sehr Wichtiges vergessen zu haben, etwas, das ihn nun die Hand heben und die Leere spüren ließ, die von innen dumpf gegen seine Rippen pochte. Er befand sich in einem kalten, leeren Raum. An den Wänden hingen Spiegel, die in unendlicher Fortsetzung sich selbst zeigten. Marmorne Säulen reichten so weit in einen dunklen Himmel, dass ihr Ende nicht zu erkennen war. Und dort, umgeben vom eigenen Zwielicht, saß ein Engel.
    In dem Augenblick, da der Junge ohne Namen den Engel sah, vergaß er den Schmerz. Er wusste nicht, aus welchem Grund er so sicher war, einem Engel gegenüberzustehen. Aber er war es. In der Gestalt einer Sphinx saß der Engel da, die gewaltigen Pranken vor sich ausgestreckt, die Augen geschlossen. Hinter seinen Lidern glühte goldenes Licht, und als der Junge ohne Namen vortrat und den schwachen Kälteschein auf seiner Haut spürte, da begann die Figur des Engels vor seinen Augen zu flackern. Sein Leib verwandelte sich in all die Gestalten, die er in dem Abgrund hinter seinen Lidern trug. Er wurde zu einem Seraph mit flammenden Schwingen, einem Jüngling, dessen Haar seidig auf seine nackten Schultern fiel und einem Cherub mit Tiergesicht. Hingebungsvoll beobachtete der Junge ohne Namen das Schauspiel. Ihm schwindelte, aber er konnte sich nicht abwenden, und er begriff, dass es einerlei war, welche Maske der Engel trug. Nie würde seine Erscheinung mehr sein als ein Schleier über seiner inneren Nacht, die alles Leben mit einem einzigen Blick vernichten konnte.
    Vor den mächtigen Pranken der Sphinx blieb der Junge stehen, und er fuhr zusammen, als der Engel zu sprechen begann.
    Kind der Menschen , sagte er in einem seltsamen Singsang, der zugleich weit entfernt und nah klang. Kind des Lichts, Kind der Schatten, Kind der Dämmerung. Bist du gekommen, um mit mir zu spielen?
    Der Junge ohne Namen lauschte auf die melodische Stimme und hob unschlüssig die Schultern. Ich weiß nicht, warum ich hier bin, erwiderte er. Ich erinnere mich nicht.
    Ein Lachen drang durch die Luft, das Gesicht der Sphinx neigte sich ein wenig zu ihm herab. Erinnerungen sind Fesseln an etwas, das verloren wurde. Wissen ist eine Illusion. Du bist gekommen, damit ich dich ansehe. Ist es nicht so?
    Das Licht hinter den Lidern glomm auf, seine eisige Hitze traf den Jungen und zog ihn noch näher heran.
    Ja , flüsterte er ehrfurchtsvoll.
    Der Engel lächelte, der Junge hörte es am Klang der Stimme. Kleiner Narr , erwiderte der Engel sanft. So viele kamen vor dir, dass ich keine Zahlen mehr für sie habe. So viele sind schon in meinem Feuer verbrannt, so viele haben sich selbst zerrissen. So viele sind umsonst gekommen. Deine Gründe, die dich bis hierher getragen haben, hast du vergessen wie blasse Träume. Du kannst mir nicht einmal deinen Namen nennen. Aber du willst dich einer Prüfung stellen, von der du nichts weißt, und weichst nicht vor mir zurück. Warum, Menschenkind? Warum willst du das tun?
    Der Junge hätte tausend Gründe nennen können, aber keiner hielt stand angesichts der Reglosigkeit der Sphinx. Schließlich erwiderte er: Weil es keinen anderen Weg für mich gibt.
    Erst als er es aussprach, wurde es wahr. Er spürte, dass diese Worte zutrafen, und es schien dem Jungen ohne Namen, als hätte er jeden Schritt seines bisherigen Lebens nur getan, um an diesen Punkt zu gelangen. Er wollte hinter den Schleier schauen. Er wollte das Gold sehen, das auf ihn wartete und das ihm ein Ankommen versprach, dessen Tragweite er nicht einmal erahnen konnte.
    Der Engel verharrte. Es war wie ein Lauschen auf etwas, das der Junge nicht hören konnte. Dann nickte er leicht. So komm , raunte er dunkel. Wage den letzten Schritt.
    Die Lider des Engels hoben sich, und obwohl das Licht rasend schnell hervorbrach, sah der Junge ohne Namen es kommen: als Meute aus wilden Hunden, als Gischt, aus der tobende Pferde brachen, als Sonne und Mond und alle Gezeiten, die sich in einer gewaltigen Explosion vereinigten und nur ein Ziel hatten: ihn mit sich zu reißen. Ein mächtiges Tosen zerfetzte ihm fast das Gehör, aber in dem Moment, da das Licht ihn berührte, endete jeder Lärm. Es war, als wäre er in einen anderen Raum getreten, in dem es keine Fragen und keine Antworten mehr gab, sondern nur noch reines Gold.
    Er merkte kaum, dass er den Kontakt zum Boden verlor. Hingegeben erwiderte er den Blick der Sphinx, die er hinter den Schleiern aus Licht nur noch

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