Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
aber auch das Brot schmeckte anders als im Kreis der Gemeinschaft, und als sie sich schlafen legten, versuchte Nando vergeblich, den Sternenhimmel über sich zu erkennen. Sanft strich der Rauch des Feuers über seine Stirn, und ehe er sich noch fragen konnte, warum er sich so kalt anfühlte, zog der Schlaf ihn mit sich.
Augenblicke später, so schien es ihm, schreckte er hoch. Das Feuer war erloschen, und als er sich nach den anderen umdrehte, musste er feststellen, dass sie verschwunden waren. Er griff nach seiner Geige, aber auch sie war fort. Sofort rappelte er sich hoch. Verflucht, was war geschehen? Selbst die Tiere waren nicht mehr da. Nur der Donner klang, mal näher, mal weiter entfernt, durch die Nacht. Nando fuhr sich über die Augen und konzentrierte sich auf seinen Oreymon. Dessen Kälte beruhigte ihn und ließ ihn klarer denken. Seine Freunde hätten ihn niemals einfach so allein am Feuer zurückgelassen. Irgendetwas musste sie fortgetrieben haben. Ob die Medusen zurückgekehrt waren und die Gruppe überfallen hatten? Aber ein Kampf hätte ihn geweckt. Oder war ein Bannzauber über ihn gelegt worden, der ihn betäubt hatte? Noch während er nachdachte, setzte er sich in Bewegung. Er fühlte sich wie gerädert, besonders lange hatte er mit Sicherheit nicht geschlafen. Die anderen konnten noch nicht weit gekommen sein.
Da erklang ein spöttisches Lachen. Er drehte sich einmal um sich selbst, konnte aber niemanden erkennen. Stattdessen sah er in einiger Entfernung einen Lichtschein. Eilig lief Nando darauf zu, aber das Licht entfernte sich rasch von ihm, nur um im nächsten Moment wieder direkt neben ihm aufzutauchen. Erst als er vor Erschöpfung langsamer wurde, stellte er fest, dass er dem Licht nur auf diese Art näher kam. Er zwang sich, seinen Atem zu regulieren, und je ruhiger er wurde, desto stetiger brach der Schein durch die Dunkelheit. Bald fühlte er seine Wärme auf seinem Gesicht und zog verwirrt die Brauen zusammen. Es war das Feuer, das Hadros entfacht hatte. Avartos, Noemi und Kaya schliefen, während Hadros aufrecht dasaß und Nando betrachtete – Nando, der als sein eigener Zwilling neben den anderen in tiefem Schlummer lag.
Zögernd trat er näher und betrachtete sein Ebenbild im Schlaf. Er sah erschöpft aus und fremd mit dem bleichen, reglosen Gesicht.
Und doch bist du es.
Nando konnte nicht sagen, ob Hadros’ Stimme in seinen Gedanken widerklang oder in der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit?, fragte er sich sofort. War es die Wirklichkeit, in der er stand? Oder war es …
… ein Traum , beendete Hadros seinen Satz. Das Feuer verwandelte seine Augen in zwei Scherben aus goldenem Glas. Dein Geist ist in die Zwischenwelt getreten, wie ich es voraussah. Der Cor Wanoy hat dich ausgewählt, um ihn zu finden. Begib dich auf die Suche, Sohn der Hölle, und du wirst die Pforte aufspüren, die dich zu ihm führt. Doch beeile dich. Sobald der Morgen graut, wird der Traum zerbrechen, und dein Geist wird für immer verloren sein in der Wüste des Lichts.
Seine Worte wurden leise, als würden sie in einen tiefen Brunnen fallen, und noch ehe seine Gestalt sich mit grauer Asche überzog, wusste Nando, dass er keine weiteren Informationen von ihm bekommen würde. Hilflos wandte er sich um. Wie war es möglich, dass er träumte und sich dabei selbst ansah? Er schüttelte den Kopf. Sinnlos, darüber nachzudenken. Er musste diese verdammte Pforte finden, und das schnell. Schon bald konnte es dämmern.
Er ging einfach drauflos, ohne den Bildern auszuweichen, die ihn umschwebten. Ascheflocken umtosten ihn, und mit jedem Schritt wuchs seine Unruhe. Verdammt, wo sollte er nach der Pforte suchen? Wie sollte er sie überhaupt finden in seinen eigenen Träumen? Der Gedanke ließ ihn innehalten. Und wenn es gar nicht sein eigener Traum war, in den er geraten war? Er sah sich um, betrachtete die schwebenden Bilder, die er allenfalls aus Geschichten und Liedern kannte, und spürte plötzlich den tiefen Verfall, der jedem von ihnen anhaftete. Tief in ihnen glomm die Gewissheit, dass all dies längst vergangen war. Nando hob den Blick. Es war nicht sein eigener Traum, den er durchwanderte. Es war der Traum des Engels.
Der Donner ließ den Boden erzittern. Auf einmal war er so nah, dass Nando schwankte, und mit ihm wurden auch die Bilder ringsum erschüttert. Sie formten sich zu neuen Figuren, zu sterbenden Engeln und Schlachtenszenarien aus uralter Zeit, aber auch zu grotesken, surrealen Landschaften.
Nando
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