Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
durchschritt sie vorsichtig, als wäre er in einen Märchenwald geraten, der ihn bei dem ersten falschen Schritt verschlingen würde. Jetzt sah er Menschen aus den Schleiern brechen, aber sie erschienen ihm fremd. Er verstand nicht, worüber sie lachten, konnte ihre Traurigkeit nicht empfinden und auch nicht ihre Verzweiflung, und doch verspürte er den dringenden Wunsch, zu ihnen zu gelangen – so nah, dass er sah, was sie sahen, und fühlte, was sie fühlten. Eine tiefe Trauer lag in der Unmöglichkeit dieses Wunsches, und plötzlich musste Nando an Yrphramar denken und daran, wie sein alter Freund ihm von dem Licht erzählt hatte, das immer warm und golden zu dem einsamen Wanderer auf der Straße herausfiel. Schon damals hatte Nando gewusst, dass er nicht nur das Licht der menschlichen Wohnungen gemeint hatte, aber erst jetzt inmitten der Traumbilder des Cor Wanoys verstand er es ganz. Es gab nicht nur einen Glanz der Engel. Es gab auch einen Glanz der Menschen, einen sterblichen Schimmer, der gerade aufgrund seiner Vergänglichkeit unendlich kostbar war. Heiter war er, unbedarft und friedlich, weil er jenseits der Erkenntnis lag – jenseits des ewigen Geistes, der alles abhäutete und sezierte und nichts übrig ließ als namenlose Kälte.
Erst als er die Wärme auf seinem Gesicht fühlte, merkte Nando, dass er vor einem erleuchteten Fenster stand. Regen fiel um ihn nieder, es war der Regen der Menschenwelt, und er sah lachende Gesichter hinter dem dünnen Glas und begriff im gleichen Moment, dass er mit den Augen eines Engels in diesen Raum schaute. Das Bild jedoch hatte er selbst erschaffen – er hatte es gedacht, und nun war es in den Traum des Engels geraten. Vorsichtig streckte er die Hand aus, um das Fenster zu berühren, und kaum dass seine Finger das Glas trafen, verwandelte es sich in helles Gold. Er spürte, wie diese Erinnerung in ihm selbst verblasste, nun, da er sie dem Cor Wanoy geschenkt hatte, aber es kümmerte ihn nicht. Zu deutlich fühlte er den Blick der Sphinx auf sich ruhen, durch alle Bilder hindurch, und mit ihr die unendliche Stille, die in ihrem Licht auf ihn wartete. Jeder Gedanke, jede Zerrissenheit würde darin erlöschen, und er folgte der Kühle, die über seine Stirn strich wie eine Verheißung. Von Bild zu Bild lief er vorwärts, tauchte durch die Bilder des Engels und verwandelte sie mit dem Leben, das er in sich trug, in strahlendes Gold. Namen aus seinem menschlichen Leben rannen dabei aus seinen Gedanken in die Bilder, mehr und mehr verschwand die Düsternis um ihn herum, und er vergaß, ohne zu vermissen. Er reiste auf den Träumen des Engels – reiste auf ihnen zur Pforte des Frosts.
Er war außer Atem, als ein Schatten auf sein Gesicht fiel. Schwer drückte er ihn zu Boden, bis Nando auf den Knien lag, zwang seinen Kopf auf seine Brust, als wollte er ihn zu einer Verbeugung nötigen, und wich dann ebenso plötzlich zurück, wie er gekommen war. Langsam schaute Nando auf, und vor ihm, haushoch und spiegelgleich, erhob sich das Portal des Engels. Seine Fläche jedoch zeigte nichts als Dunkelheit, und plötzlich empfand Nando etwas wie Furcht, ohne zu wissen, aus welchem Grund.
Eine leise Stimme in ihm flüsterte ihm zu, dass er sich umdrehen und gehen sollte. Er erinnerte sich nicht einmal mehr daran, warum er eigentlich an diesen Ort gekommen war. Hatte ihn jemand begleitet? Woher war er gekommen? Was war sein Ziel? Er legte die Hand auf seine Brust, da ihn eine durchdringende Kühle in seinem Inneren ruhiger werden ließ, und betrachtete sich selbst in der Schwärze des Portals. Wenn er es genau bedachte, wusste er nichts mehr außer seinem Namen, und er begriff, dass er auch ihn verlieren würde, wenn er das Geheimnis dieses Spiegels lüften wollte. Und das wollte er, mehr als alles andere, denn er konnte noch immer das Licht fühlen, das dahinter lag – diesen Schein, für den er von weit her gekommen sein musste, auch wenn er sich nicht an seine Reise erinnerte. Schritt für Schritt trat er vor, und als er die Hand ausstreckte und die Schwärze des Spiegels über seine Haut strich, spürte er keine Angst mehr.
»Nando«, flüsterte er und hörte noch, wie der letzte Rest seiner Erinnerung von raunendem Wind aufgegriffen wurde.
Dann wurde es still, unendlich still. Die Schwärze verwandelte sich in eine Fläche aus eiskaltem Licht. Ohne den Blick abzuwenden, trat er ein – ein Mensch, ein Dämon, ein Engel ohne Namen.
34
Der Junge ohne Namen fiel auf die Knie.
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