Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
ihren Blick, dann wandte er sich ab. »Es gibt keinen Weg. Ich habe keinen Hinweis gefunden zu dem, den wir suchen.«
Noemi ging an den erstarrten Scherben vorüber. »Ich dachte, du seist ein Jäger – und nun willst du aufgeben, bevor unsere Reise überhaupt begonnen hat?«
Der Engel entgegnete nichts, sondern sah nur in Hadros’ helle, klare Augen, die wie bei allen Engeln mehr Frage als Antwort waren.
»Er ist unsere einzige Chance«, sagte Nando, ohne den Blick von dem Krieger abzuwenden. »Es muss eine Möglichkeit geben, ihn zu finden.«
Avartos stieß die Luft aus. »Seit Tagen lasse ich mir nun von verfluchten Gnomen auf dem Schädel herumtanzen. Ich habe sämtliche Bücher dieser stinkenden Stadt gelesen, ebenso wie alle relevanten Schriften Arsvidors, und herausgefunden habe ich vor allem eines: Hadros verstand sich wie kein Zweiter darauf, seine Spuren zu verwischen.«
»Über Jahrhunderte bewahrte er die Welt vor Grausamkeit, Bosheit und Tod«, murmelte Nando nachdenklich. »Er wurde von seinem Volk verehrt und von den Dämonen gefürchtet, und es gibt bis heute niemanden, der ihm auch nur annähernd an Kraft und Geschicklichkeit gleichkommt. Wieso sollte ein solcher Krieger und Jäger einfach verschwinden?«
Kaya zuckte mit den Schultern. Sie betrachtete ein halb zerbrochenes Standbild des Engels und ließ den Blick über sein Schwert schweifen, jene Klinge, die – getarnt durch einen mächtigen Zauber – Bhalvris gewesen war. »Vielleicht war er am Ende seiner Kräfte«, mutmaßte sie. »Selbst Engel werden älter, wahrscheinlich wollte er abtreten, bevor sein Körper oder sein Geist verfiel. Und wenn ich mir vorstelle, dass er zeit seines Lebens Abenteuer bestanden und Schlachten geschlagen hat, wäre eine Existenz in den goldenen Mauern Nhor’ Kharadhins ihm wohl wie ein Gefängnis vorgekommen.«
»Aber niemand verschwindet einfach«, sagte Nando. »Selbst wenn er kein Interesse mehr an seinem Volk hatte – er konnte sich doch nicht einfach in Luft auflösen. Gab es denn keine Weggefährten oder Freunde, die wissen könnten, wohin er gegangen ist?«
Avartos maß ihn mit einem Blick, der offenbarte, dass er die Frage für einen Scherz hielt. Dann seufzte er leise. »Narr von einem Menschen. Wir sprechen hier nicht von einem Dämon oder einem Nephilim. Wir sprechen von einem Engel, einem Krieger, einem der besten, die es je gab. Hadros brauchte niemanden.«
Noemi hob verächtlich die Brauen. »Du sagst das, als würdest du es glauben. Wie konnte ein Volk mit solcher Ignoranz nur so mächtig werden?«
»Vielleicht, indem wir uns auf das Wesentliche konzentrierten«, erwiderte der Engel ruhig.
»Auf was denn?«, fragte Noemi spöttisch. »Morden?«
Avartos setzte zu einer Entgegnung an, beschloss aber dann augenscheinlich, sich nicht provozieren zu lassen.
»Hadros kämpfte allein«, sagte er stattdessen. »Er lebte allein. Und wenn er gestorben wäre, hätte er auch das allein getan.«
»Und was, wenn … «, begann Kaya.
»Was, wenn Hadros nicht mehr lebt?«, beendete Avartos ihren Satz. »Dann bleibt uns, zu hoffen, dass das verfluchte Schwert mitsamt dem Schlüssel auf seinem Leichnam liegt. Aber auch den müssten wir erst einmal finden.« Er schaute zu einem der zerbrochenen Bilder hinüber. Es zeigte ein Stück der Ruine Aeresons, in der Hadros den Hexenmeister bezwang. Das Blut unzähliger Engel bedeckte den Boden, Nando meinte fast, es riechen zu können. »Er hat seine ganze Meisterschaft für sein Verschwinden genutzt. Das einzig Neue, das ich gefunden habe, sind seine Aufzeichnungen von seinem letzten Kampf gegen den Hexenmeister Askramar, und auch sie helfen uns nicht weiter.«
Schemenhaft konnte Nando in dem Bild den Engelskrieger erkennen.
»Dann hat er dieses Manuskript selbst verfasst?«, fragte Noemi und trat näher.
Avartos nickte. »Es ist nicht unüblich in meinem Volk, dass die Krieger die Erinnerungen an ihren letzten Kampf eigenhändig zu Papier bringen. Aber es steht nichts darin, das wir nicht schon wüssten.«
»Du bist ein Engel«, gab Noemi zurück, ohne ihn anzusehen. »Und wie jeder Engel siehst du selten mehr als dich selbst. Diese Zeilen sind ein Tor zum Inneren desjenigen, der sie schrieb – so, wie alle Worte es sind.«
»Diese Worte sind das, was sie uns sagen, nicht mehr.« Mit finsterer Miene wandte Avartos sich ab, und in diesem Moment fing Nando Noemis Blick auf. Sie hob die Hand, züngelnde Schatten umspielten ihre Finger, und ihre Stimme
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