Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
flüsterte durch seine Gedanken.
Jede Geschichte birgt einen eigenen Kosmos und Welten, die zwischen den Zeilen darauf warten, erweckt zu werden.
Doch kaum dass Noemi die Hand nach der Scherbe ausstreckte, begann das Licht unruhig zu flackern, und im nächsten Augenblick stand Avartos hinter ihr und umfasste ihr Handgelenk. Eisige Härte überzog sein Gesicht.
»Niemand wirkt hier die Magie der Schatten, wenn es nicht zwingend notwendig ist«, sagte er gefährlich leise.
Nando kannte diesen Tonfall in seiner Stimme, oft genug hatte er ihn gehört, als Avartos ihm noch nach dem Leben getrachtet hatte. Raureif überzog Noemis Finger, Nando wusste, dass der Frost des Engels schmerzhaft war, aber sie rührte sich nicht.
»Es ist notwendig«, erwiderte sie nicht weniger kalt. »Lange genug haben wir es auf deine Weise probiert, und was haben wir erreicht? Nichts!« Das Wort peitschte durch den Raum, Zorn flammte in ihren Augen auf, als sie sich losriss.
Nando hob beschwichtigend die Hände. Er kannte die Schatten, die zärtlich um Noemis Finger spielten, und eines war sicher: Nicht grundlos gab es Wege jenseits des Lichts, die er stets gemieden hatte. Niemand konnte wissen, wie tief die Finsternis an ihren Rändern war und wo Noemi sie hinführen würde. Doch nun, da er Avartos schweigen und die Dunkelheit in Noemis Blick auflodern sah, wusste er, dass es keinen anderen Weg mehr für sie gab. Wenn sie Hadros finden wollten, durften sie die Nacht nicht fürchten.
»Du hast versucht, uns zu schützen«, sagte er zu Avartos. »Aber hier endet der Weg des Lichts für uns. Weißt du nicht mehr, was du mir gesagt hast, damals in den Brak’ Az’ghur? Wir können die Schatten fürchten, aber wir dürfen nicht vor ihnen zurückweichen, und vielleicht müssen wir uns mitten hineinbegeben auf dem Weg, der vor uns liegt. « Er hielt kurz inne. »Vielleicht ist es so weit. Vielleicht ist die Zeit für ein wenig Dunkelheit gekommen.«
Avartos sah ihn an. »Du sprichst von der Nacht, als würdest du sie kennen«, sagte er beinahe sanft. »Doch du weißt nichts von ihr. Und du, Tochter der Schatten … du ahnst nichts von wahrer Finsternis. Du spielst mit ihr, aber sie könnte dich vernichten mit nicht mehr als einem Lachen, und deine Furchtlosigkeit wird dich nicht retten auf dem Weg, den du gehen willst.«
Noemi schob das Kinn vor. Nando rechnete damit, dass sie eine spöttische Antwort geben würde, wie immer, wenn das Grün ihrer Iris wild aufflackerte. Doch stattdessen glitt ein Lächeln über ihr Gesicht. »Vergiss nicht, Engel des Lichts: Ich bin eine Kriegerin. Und das bedeutet vor allem dies: Man misst mich an dem Rang meiner Feinde.«
Avartos entgegnete nichts. Für einen kurzen Moment zog etwas durch seinen Blick, das sein Gesicht ganz weich machte, vielleicht das Staunen über so viel Arglosigkeit. Dann wandte er sich ab und nickte. Angespannt beobachtete Nando, wie Noemi die Hände hob. Sie sprach den Zauber und kaum dass ihre Schatten das Licht berührten und wie Tinte in den goldenen Glanz einzogen, kroch das Licht über ihre Hände und verbrannte ihre Haut. Schmerz flackerte über ihr Gesicht, doch sie stieß eine Silbe nach der anderen über ihre Lippen. Die Schatten krochen voran, sie umschlangen die Scherbe, und gerade als Noemi zu zittern begann, sprach sie die letzte Formel. Sie ballte die Faust, und als ein Schmerzenslaut ihrer Kehle entwich, glommen die schwarzen Zeichen unter ihrer Haut auf. Ihre Glut zerriss das Licht und erlosch erst, als die Scherbe zerbrach und Noemi die Hand zurückzog.
Sie schwankte, und noch während Avartos sie festhielt, öffnete sie ihre Handfläche. Schatten umspielten ihre Finger, doch in ihrer Mitte, lodernd wie eine unsterbliche Flamme, brannte goldenes Licht – ein Stück der Scherbe, die Hadros’ Erinnerung gewesen war.
Noemi hob die Hand vor ihr Gesicht. Sie war außer Atem, noch immer lag eine Ahnung von Schmerz auf ihren Zügen, doch um ihre Lippen glomm ein Lächeln.
»Nehmt euch in Acht, ihr Schatten«, sagte sie leise. »Wir bringen euch ein Herz aus Licht.«
3
Der Gestank war unerträglich. Dicht an dicht drängten sich die Bruchbuden der Rarzedas aneinander, die Gassen zwischen ihnen waren nicht mehr als glitschige Pfade, über die stinkendes Abwasser lief, und Avartos zweifelte nicht daran, dass er noch nie zuvor in ein Drecksloch wie dieses hinabgestiegen war. Er wich einem dreibeinigen Hund mit blutverkrustetem Fell aus, der ihn glotzäugig anstarrte,
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