Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
Empfindungen in der gleißenden Kälte seines Volkes zu ersticken.
»Unser Weg führt uns zum Weißen Krieger«, sagte er dann. »Ein mächtiger Engel, der im Kampf gegen Askramar Seite an Seite mit Hadros stand. Noch immer gehört er zu den gefürchtetsten Jägern meines Volkes. Neben seiner hohen Stellung in der Garde der Königin untersteht ihm auch die Ausbildung neuer Rekruten. Ich weiß nicht, ob er uns weiterhelfen wird, ich bezweifle es ehrlich gesagt. Denn ich kenne ihn gut, und selbst wenn die Freundschaft, die ihn mit Hadros verband, keine Illusion war, wird er den Teufel tun und sie eingestehen.«
Noemi zog die Brauen zusammen, aber sie war klug genug, um ihn nicht darauf hinzuweisen, dass er noch vor Kurzem die Möglichkeit einer Freundschaft zwischen zwei mächtigen Engelskriegern bestritten hatte. »Du kennst ihn?«, fragte sie stattdessen.
»Ja«, erwiderte Avartos leise. »Er ist mein Vater.«
Nando riss die Augen auf, doch ehe er etwas sagen konnte, hob Avartos den Blick. »Jetzt ist nicht die Zeit, um über Familienverhältnisse zu sprechen. Der Weg zum Weißen Krieger ist gefährlich, gut möglich, dass er uns das Leben kosten wird, denn an dem Ort, an den er uns führt, hasst man uns nicht weniger als in der Hölle. Lasst uns gehen. Wir sollten keine Zeit verschwenden.«
Ohne eine Reaktion abzuwarten, ging er die Gasse hinauf. Der Schnee legte sich kalt auf sein Gesicht, aber er hörte Nandos Stimme, die flüsternd den Wind durchdrang, und konnte sich nicht gegen den Frost wehren, der sich tausendfach so stark auf seine Schultern legte.
»Nhor’ Kharadhin«, raunte der Sohn des Teufels, und es klang wie ein Fluch. »Die Stadt der Engel.«
4
Der heisere Schrei der Krähe zerriss die Schatten der Brak’ Az’ghur und ließ sie wie Totentücher über Pherodos’ Gesicht flattern. Mit finsterer Miene trat er hinter Raar aus dem Tunnel. Er hatte den Geruch von Schweiß, Alkohol und gebratenen Ratten schon vor einer ganzen Weile wahrgenommen, doch nun, da er den Aschemarkt betrat, schlug er ihm mit aller Macht entgegen. Vor allem Menschen drängten sich vor den Ständen der Händler. Pherodos fühlte ihre Stimmen gegen seine Haut trommeln, als wären sie Hagelkörner, und hörte Ligur neben sich gierig die Luft einsaugen. Die Klaue des Hungers hatte immer schon einen widerlich primitiven Geschmack gehabt.
Leise war der Wind, den Raar über den Platz schickte, und doch reichte er aus, um der Furcht ihren angestammten Platz im Nacken der Menschen zu geben: der Furcht vor dem, was Sterbliche niemals begreifen würden. Für einen Lidschlag starrten sie wie gelähmt herüber, dann wandten sie sich ab. Dieser kurze Moment war Warnung genug. Pherodos ging voraus. Ligurs Hyäne schnüffelte keckernd nach den Menschen, der Geier flog so dicht über die Stände hinweg, dass die schäbigen Wellblechdächer erzitterten, und Skelfirs Hufe brachten den Boden zum Beben. Die Besucher wichen vor ihnen zurück, ließen sich von Pherodos vor die Brust schlagen, wenn sie nicht schnell genug waren, und krochen fort von ihnen, eilig und flüsternd. Pherodos umfasste einen dürren Kerl mit seinem Blick, der es gewagt hatte, ihn anzustarren, und ließ die Feuer Jerichos in seinen Augen aufflammen. Sofort taumelte der Mensch zurück und stolperte durch die Menge davon. Pherodos schnaubte verächtlich. Dabei ging es nach den Flammen in seiner Jericho-Erinnerung erst richtig los.
»Da ist es«, murmelte Ligur und deutete auf eine halb eingestürzte Bretterbude am Rand des Platzes. Erst als sie näher kamen, stellte Pherodos fest, dass sich eine Tür in der Fassade befand, durch die Leute ein und aus gingen. Offensichtlich war das Haus also noch nicht marode genug, dass die Menschen es mieden. Er warf einen Blick auf den schwarzen Hahn, der mit Teer auf die Tür gemalt worden war, und nickte langsam. Ausnahmsweise hatte Ligur also recht. Das war tatsächlich die Absteige, zu der Kymbra sie bestellt hatte.
Rauch wallte ihnen entgegen, als sie eintraten. Durch die Schleier erkannte Pherodos nur dunkle Schemen, aber auch hier nahm er die Spannung wahr, die mit ihrem Erscheinen durch die Luft ging. Sie hockten sich in eine Ecke, und während Ligur sich eines der brodelnden Getränke besorgte, die überall auf den niedrigen Tischen standen, saß Raar da wie erstarrt. Pherodos konnte es ihm nicht verdenken. Menschen, überall Menschen um ihn herum, stinkendes Pack, das nichts begriff. Die Welt hatte sich verändert, das
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