Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
Hüfte hinab. Langsam wandte sie den Kopf, doch ehe sie ihn ansah, brach ein anderes Bild durch diese Erinnerung. Es war ein Grab, fast meinte er, den Schnee zu riechen, der leise darauf niederfiel, und er sah einen jungen Engel, in Menschenjahren vielleicht sechs oder sieben, der vor dem Grab auf die Knie fiel und weinte. Es schien ihm, als würde er den Schmerz des Jungen selbst spüren, er wusste, dass es seine Mutter war, die in der kalten Erde lag, und als sich eine drohende Faust über dem Kind erhob, taumelte er zurück.
Der Schlag traf ihn wie damals, und das Bild zerriss. Um ihn herum tobte wieder die Schlacht Aeresons, aber er hörte eine Stimme aus lang vergangener Zeit in sich widerhallen. Willst du sein wie die Menschen? Wimmernde, verweichlichte Kreaturen sind es, doch du bist ein Engel, Avartos! Ein Krieger – und kein Mensch, der schwanken und zittern darf, da seine Existenz flüchtiger ist als ein Nebelstreif am Horizont. Du bist ein Engel, und jede Träne bringt dich den Schatten näher, die in dir lauern! Stürzt du in sie, wirst du werden wie jene, die wir jagen und verachten! Du wirst ein Diener des Teufels sein, mein Sohn – ein Sklave der Hölle, einer von jenen, die deine Mutter töteten!
Die Kälte des Zaubers zwang Avartos auf die Knie. Der Spiegel lähmte seine Glieder, er musste ihn verlassen, sofort. Aber er konnte sich nicht rühren, und das lag nicht allein an Kherisars Gift. Nur wenige Schritte von ihm entfernt stand der Weiße Krieger, und während noch die Worte in ihm verklangen, überkam Avartos die Gewissheit, den Kern dieser Illusion gefunden zu haben. Im selben Moment wich der Frost von ihm und legte sich knisternd über die Szene. Kurz meinte er, Kherisar als Gestalt mit sechs Schwingen über den Himmel gleiten zu sehen, flammende Augen öffneten sich auf dem bleichen Leib, und keine Nacht der Welt konnte die Dunkelheit erreichen, die in ihrem Blick lag. Raureif überzog die Schergen des Hexenmeisters und gefror auch die Krieger des Lichts, und Avartos schaute zu Kolkrinor auf und rechnete mit dem gleichgültigen Ausdruck auf dessen Zügen, der ihm stets Vertrautheit und Bürde in einem gewesen war. Doch stattdessen fand er etwas anderes in seinen Augen, etwas, das so unwirklich war, dass es sein Gesicht kurz in das eines Fremden verwandelte. Der Engel schaute über Avartos hinweg, sein Blick durchdrang die geschlossene Tür des Hohen Turms und fiel auf Hadros, der dem Hexenmeister gegenüberstand, und da fühlte Avartos die Wärme, die aus den Augen des Weißen Kriegers sprach. Er fand ein Wort für das, was er sah, und hielt den Atem an. Noch nie zuvor hatte er dieses Gesicht in solcher Schönheit gesehen wie in dem Moment, da die Sorge um einen Freund es adelte.
Ein Flüstern ging durch die Ruine und brachte das Bild zum Einsturz. Avartos sah noch, wie Kherisars Schatten über ihn hinwegzog, als Kolkrinor mit allen anderen Figuren in sich zusammenfiel. Dann hüllten ihn die Scherben ein wie Schneegestöber, der Boden zerbrach unter ihm und er fiel, durch Tag und Nacht und Dämmerung, bis er auf der Gasse vor Kherisars Haus aufschlug. Hart landete er mit dem Kopf auf dem Pflaster, Blut lief über seine Schläfe. Von ferne hörte er sie lachen, sah sie noch als Schemen im Zwielicht des Himmels von Katnan und meinte, ein goldenes Glimmen in ihren Augenhöhlen erkennen zu können. Dann war sie verschwunden und nichts als feiner Schnee fiel um ihn nieder.
Stöhnend wollte er auf die Beine kommen, doch schon war Nando an seiner Seite und half ihm auf. Kaya schaute besorgt auf seine Wunde, Noemi hatte die Fäuste geballt. Ein seltsamer Ausdruck flammte über ihre Züge, als sie ihn ansah, etwas wie … Erleichterung? Sie wandte sich ab, als ihr bewusst wurde, dass er sie anschaute, und Zorn färbte ihre Wangen rot.
»Dafür wird Kherisar bezahlen«, sagte sie düster. »Sie hat uns übertölpelt, wie auch immer sie es angestellt hat!«
Avartos strich sich das Haar zurück und heilte seine Wunde. »Kind der Dunkelheit«, sagte er sanft. »Weißt du es denn nicht? Die Schatten fordern immer ihren Tribut.«
Noemi erwiderte seinen Blick, für einen Augenblick bloß, und er meinte, ihren Gedanken hören zu können. Wie das Licht, nicht wahr?
»Dann hielt sie sich an den Pakt?«, fragte Nando kaum hörbar. »Hast du etwas gefunden, das uns weiterhelfen kann?«
Avartos schwieg. Noch immer sah er das Gesicht Kolkrinors vor sich, und er brauchte einen Moment, um seine
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