Die Chroniken von Amarid 02 - Der Kristall der Macht
künstliches Geschöpf handelte. Echt oder nicht, dachte er, der Vogel war das beste Mordwerkzeug, das er je gesehen hatte. Glyn hatte gewaltigen Respekt vor ihm.
Die ganze Zeit hatte sich Calbyr sehr zurückgehalten, was die Identität ihrer Auftraggeber anging. Zweifellos steckte Cedrych dahinter, aber selbst der hätte allein nicht die Mittel gehabt, sechzehn dieser Vögel herzustellen. Das hätte eigentlich bedeuten sollen, dass auch der Herrscher mit der Sache zu tun hatte, aber Calbyr war den Sicherheitskräften des Herrschers sorgfältig aus dem Weg gegangen. Glyn wusste aus persönlicher Erfahrung, dass das immer eine gute Idee war, besonders, wenn man versuchte, so genannte »hochentwickelte Waren« aus dem Nal zu schaffen. Wenn der Herrscher von dieser Operation wüsste, hätte Calbyr nicht so viel Wert auf Verstohlenheit gelegt. Nicht, dass Glyn je begriffen hatte, wieso der Herrscher wegen dieser Dinge so besorgt war. Nach allem, was er wusste, interessierten sich die Herrscherinnen von Oerella-Nal nicht für Waffentechnologie. Und niemand in Stib-Nal hatte das Hirn, sie entsprechend einzusetzen. Zweifellos machte sich der Herrscher auch keine Gedanken darüber, dass jemand in Abboriji oder Tobyn-Ser daran denken könnte, das Nal anzugreifen. Aber wenn man Zeuge wurde, wie eifrig die Sicherheitskräfte ihrer Arbeit nachgingen, dann bestand kein Zweifel daran, dass der Herrscher beunruhigt war. Glyn schüttelte den Kopf und wandte sich in Gedanken wieder dem Vogel zu, der auf seiner Schulter saß. Wer auch immer Calbyrs Auftraggeber waren, sie hatten bei diesen Geschöpfen keine Kosten gescheut. Die mechanischen Falken bewegten sich wie echte Vögel, reagierten auf Befehle wie gut dressierte Haustiere, töteten wie Söldner und konnten sogar die Taktik ihrer Gegner vorhersehen. Die Technologie, die notwendig war, um solche Geschöpfe zu schaffen, ging über alles hinaus, was Glyn sich je hätte vorstellen können. Er hätte den Vogel gerne behalten; er hätte vielleicht sogar etwas von seiner Bezahlung dafür gegeben. Vielleicht.
Und im Grunde war die Arbeit gar nicht so übel. Tatsächlich gefiel Glyn, was er zu tun hatte, wenn man von dem Laufen und dem schlechten Essen einmal absah. Seit er erwachsen wahr, ja sogar seit seinen Jahren als halbwüchsiger Junge, als er sich schon für erwachsen gehalten hatte, hatte Glyn nur über eine einzige wahre Begabung verfügt. Es ging nicht darum, dass er ein recht fähiger Mörder war. Er kannte viele, die aus Bragor-Nal weggegangen waren, um in Abboriji als Söldner zu arbeiten, und die nie zurückgekehrt waren. Auch die hatten gewusst, wie man tötet. Aber Glyn hatte eine gewisse Begabung dafür, andere zu ermorden, ohne sich selbst allzu sehr in Gefahr zu bringen und Gefangennahme oder Rache befürchten zu müssen. Er hatte gelernt, ein Menschenleben auf die verschiedensten Arten zu Ende zu bringen, sowohl vollkommen unauffällig als auch regelrecht marktschreierisch - denn ein Mord, der auf die angemessene Weise zur Schau gestellt wurde, konnte Hunderten eine deutliche Botschaft übermitteln -, aber er war stets diskret. Wahrscheinlich war es diese Sorgfalt gewesen, die Calbyr auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Schließlich war das Glyns Spezialität. Zunächst war er skeptisch gewesen, was diesen Auftrag anging. Er zog es vor, in Bragor-Nal zu arbeiten; dort kannte er sich aus, dort hatte er Beziehungen. Er war zuvor noch nie außerhalb von Lon-Ser gewesen, und er interessierte sich wenig für den Rest der Welt. Aber Calbyr hatte ihm versichert, das man seine Fähigkeiten hier brauchen würde, dass die Herausforderung nicht nur im Töten bestünde, sondern darin, die richtigen Beweise zu hinterlassen, um anderen die Schuld zu geben. Und am Ende, bei der Sache in Kaera, hatte Calbyr Recht gehabt.
Während ihres ersten Jahrs in Tobyn-Ser hatte Calbyr sie nur mit Kleinigkeiten beauftragt: Vandalismus, Diebstahl, Brandstiftung. Es war wichtig, dass es wie eine natürliche Entwicklung aussah, hatte Calbyr gesagt. Sie durften nichts übereilen. Dabei hatte Glyn sich allerdings schnell gelangweilt. Jedes Kind hätte diese Arbeit tun können; Calbyr hatte ihn eigentlich nicht gebraucht. Aber mit Kaera hatte sich alles geändert.
»Von nun an braucht ihr euch nicht mehr zurückzuhalten«, hatte Calbyr bei ihrer letzten Begegnung gesagt. »Zerstört alles, tötet alle, und hinterlasst nur einen einzigen Zeugen.« Das gefiel ihm schon besser - das war es
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