Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
Familien zu ernähren, und halten sich an die Gesetze des Landes. In dieser Hinsicht wie in so vielen anderen, die nicht direkt offensichtlich sind, ist Lon-Ser Tobyn-Ser ausgesprochen ähnlich. Was Bragor-Nal so seltsam und so gefährlich macht, ist, dass zwar die Mehrheit seiner Bewohner friedliche, ehrliche Menschen sind, die Herrschenden des Landes aber nicht.
Aus Kapitel Acht des »Berichts von Eulenmeister Baden über seine Verhöre des Ausländers Baram«, vorgelegt auf der 1014. Versammlung des Ordens der Magier und Meister, im Frühjahr des Gottesjahres 4625.
»Es ist Zeit, Steinträger«, sagte der hagere Mann, und sein Flüstern war über das Brummen der Transporter und das Pfeifen des kalten Windes, der um die Stützen der erhöhten Straßen herumfegte, nur schwer zu verstehen. Gwilym sah sich vorsichtig um, aber er konnte kaum etwas erkennen. Die Füße immer noch auf der steilen Treppe, die aus einer der unterirdischen Passagen herausführte, und den Kopf gerade so auf Straßenebene, konnte er nur feststellen, dass es dunkel war. Aber er hatte den Männern und Frauen des Netzwerks bis hierher vertraut und würde nun nicht anfangen, Fragen zu stellen.
Der hagere Mann rannte über eine breite Straße auf einen hohen Zaun aus Metallplatten auf der anderen Seite zu. Gwilym holte tief Luft, rückte seine Rucksack noch einmal zurecht und schaute ein letztes Mal nach, ob sein Stein auch wirklich vollkommen zugedeckt war, dann stieg er die restlichen Stufen hinauf und folgte dem Mann, wobei er sich tief vorgebeugt bewegte. Als er den Zaun erreichte, hatte sein Führer bereits eine der Metallplatten zurückgeschoben und dadurch eine Öffnung geschaffen - oder genauer gesagt gezeigt, dass es schon die ganze Zeit eine gegeben hatte. Er sah sich wachsam um und bedeutete Gwilym, durch die Öffnung zu schlüpfen. Sie war eng, wenn auch eher für den Steinträger als für seinen Führer. Sobald sie auf der anderen Seite waren, schob der hagere Mann die Zaunplatte wieder zurück.
Gwilym seufzte tief. Er nahm an, so müsse sich jemand fühlen, der gerade aus einem Gefängnis entlassen worden war. Er hatte Oerella-Nal verlassen. Es hatte mehr als die Hälfte des Winters gebraucht, seit er das Nal an der Schlucht betreten und die ersten Kontakte zum Netzwerk aufgenommen hatte, aber nun war er auf der anderen Seite angelangt. Er war zu Fuß und per Transporter gereist, oberund unterirdisch, manchmal verkleidet, manchmal in Säcken oder Kisten oder halb gefüllten Behältern mit Flüssigkeiten. Unmengen von Männern und Frauen hatten ihn beschützt, ohne auch nur ein einziges Mal im Gegenzug um etwas zu bitten. Er kannte nicht einmal ihre Namen. Tatsächlich war dies die erste Regel.
Er war zu der Stelle gegangen, die Kham beschrieben hatte, und hatte das Tuch von seinem Stein genommen, genau, wie der Mann ihm gesagt hatte. Innerhalb von Minuten war eine attraktive blonde Frau auf ihn zugekommen, ihre Miene neutral, aber die Neugier in ihrem Blick war unverkennbar.
»Kann ich dir helfen, Steinträger?«, hatte sie freundlich gefragt und dabei den Blick kaum von dem schimmernden Kristall wenden können.
»Ja«, erwiderte er. »Ich bin ...«
»Keine Namen!«, unterbrach sie ihn und blickte ruckartig auf. »Wir werden dich als Steinträger ansprechen, und du nennst uns Schwester oder Bruder. So ist es sicherer.« Gwilym nickte, bevor er fortfuhr. »Ich wurde von ...« Er zögerte und schluckte. »Von einem Freund hergeschickt. Ich muss zu Beginn des Frühjahrs in Bragor-Nal sein. Ein Mann ist unterwegs dorth... «
Aber sie hob den Finger an die Lippen und schüttelte den Kopf. »Mehr brauche ich nicht zu wissen: Bragor-Nal zu Frühlingsbeginn. Komm«, fügte sie hinzu und führte ihn dann in eine Gasse, die ihm zuvor nicht aufgefallen war. »Wir haben Essen und einen Schlafplatz für dich.«
So war es seitdem immer gewesen. Einer nach dem anderen hatten sie ihn ernährt, bewacht, ihn zum nächsten Treffpunkt geführt und an andere weitergereicht. Es waren so viele, dass ihre Züge nach einer Weile zu verschwimmen begannen. Jung und alt, hell- und dunkelhäutig, bewegten sie sich durch sein Leben wie die anonymen Gesichter, die aus den Fenstern der großen Transporter herausspähten, die er auf den Straßen des Nal gesehen hatte. Die einzigen Gesichter, die er sich für kurze Zeit merkte, waren die seines jeweiligen Führers, wer immer das sein mochte, und er erinnerte sich auch noch relativ gut an die junge Frau,
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