Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
solltest du Bragor-Nal bereits im Süden sehen können. Am Flussufer befindet sich ein riesiger verrottender Baumstumpf- er ist nicht zu übersehen; es gibt andere Baumstümpfe, aber keiner ist annähernd so groß. In der Nähe ist ein Steinhaufen. Lege einen Stein auf den Stumpf und geh zweihundert Schritte den Weg entlang zurück. Dann wird jemand zu dir kommen.«
Wieder nickte Gwilym. Es gab nichts mehr zu sagen.
»Leb wohl, Steinträger«, sagte der Mann und legte Gwilym einen Moment die Hand auf die Schulter. »Arick möge dich leiten.«
»Dich ebenfalls«, entgegnete Gwilym.
Ohne ein weiteres Wort drehe sich der Führer um und machte sich auf den Rückweg nach Oerella-Nal. Gwilym sah ihm noch einen Moment lang nach, dann wickelte er das Tuch von seinem Stein und folgte dem Weg in die Berge. Es war ein steiler Aufstieg, und Gwilym hatte einen langen, schweren Tag hinter sich. Schon nach kaum einer Stunde hielt er inne und setzte den Rucksack ab. Er hatte immer noch die Ausrüstung dabei, die er aus seiner Siedlung im Dhaalmargebirge mitgenommen hatte, und das Netzwerk hatte ihm genug Vorräte für die nächste Strecke gegeben. Damit war sein Rucksack so schwer wie am ersten Tag seiner Reise. Er war jetzt kräftiger und besser an das Gewicht gewöhnt, aber Gwilym war kein junger Mann mehr.
Er packte seinen Schlafsack und etwas zu essen aus. Das Essen im Nal war seltsam und nicht sehr angenehm. Es hatte kaum Geschmack und Substanz, obwohl seine Führer ihm mehrmals versichert hatten, dass es nahrhaft war. Und alles war in dünne, durchsichtige Folien verpackt, die, wie man ihm gesagt hatte, das Zeug unendlich lange haltbar machten. Dennoch, er hätte viel für ein Stück Hartkäse und Trockenfleisch gegeben oder, noch besser, eine Schale mit Herthas Wurzel-und-Lamm-Eintopf.
Es tat immer noch weh, an sie zu denken. Nicht mehr so sehr wie direkt nach seinem Abschied aus der Siedlung, als die Sehnsucht nach ihr wie eine Klinge in sein Herz gedrungen war. Der Schmerz war nun matter, aber konstant, als wäre die Klinge herausgezogen worden, die Wunde aber unheilbar. Der Schmerz war ein Teil von ihm geworden, eine Erinnerung an das Leben und die Liebe, die er zurückgelassen hatte. Und er klammerte sich daran wie an einen Schatz. Wenn er schon Hertha nicht haben konnte, dann würde er zumindest die Trauer haben, die an die Stelle von Liebe und Leidenschaft getreten war.
Er aß nur ein paar Bissen des seltsamen Zeugs, dann steckte er den Rest wieder in den Rucksack. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal wirklich hungrig gewesen war. Sein Magen wurde leer und er füllte ihn, aber das Essen hatte ihm nicht mehr geschmeckt, seit er von zu Hause weg war. Andererseits kam es ihm so vor, als wäre er ununterbrochen erschöpft. Er erwachte morgens schon müde und wurde mit jeder Stunde, die verging, müder. Und dennoch schlief er kaum: Der Schmerz in seinem Herzen schien bei Nacht schlimmer zu werden. Er träumte oft von Hertha - manchmal konnte er sich sogar bewusst dazu bringen, von ihr zu träumen. In den meisten dieser Träume unterhielten sie sich einfach oder gingen zusammen über die Weiden oberhalb der Siedung. Manchmal liebten sie sich inmitten von Blüten und Gras. Aber wenn er morgens aufwachte, war es immer das Gleiche. Er war allein und hatte Schmerzen und war so müde, dass er am liebsten die Augen wieder geschlossen hätte. Und dennoch, wenn es Abend wurde, versuchte er abermals, Hertha in seine Träume zu holen.
Gwilym legte sich auf den Schlafsack und starrte in die Nacht hinaus. Selbst hier in den Bergen verdeckte die schmutzige Luft von Oerella-Nal den größten Teil der Sterne. Er konnte Aricks Faust und Arm hoch am westlichen Himmel erkennen, aber das war alles. Und das war auch ganz gut so. Er musste schlafen. Er hatte noch einen weiten Weg vor sich, und die Zeit verging viel zu schnell. Er schloss die Augen und fragte sich, ob Hertha wohl in dieser Nacht zu ihm kommen würde.
Aber als er schließlich träumte, war es nicht seine Liebste, die erschien. Stattdessen sah er sich selbst, wie er eine belebte Straße entlangging, allein unter tausend fremden Gesichtern. Er hielt seinen Stab vor sich und teilte damit die Menschenmassen, während er langsam weiterging. Die Straße war breit und mit dekorativen Fliesen in Blau und Gold gepflastert. Riesige Bäume, deren Zweige mit frischen hellgrünen Blättern bedeckt waren, säumten diese Straße, so weit sein Auge reichte, und in
Weitere Kostenlose Bücher