Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
Zeltes flatterte und schien ihn hereinlocken zu wollen. Gwilym seufzte. Die Macht, die ihm verliehen war, war nicht immer eine Freude für ihn. Die Zukunft zu kennen war oft ebenso eine Last wie ein Geschenk, und Visionen, ob sie nun Glück oder Unheil verheißend waren, erschöpften ihn körperlich und geistig immer vollkommen. Sie kamen ungebeten; es geschah selten, dass er einschlief und auf eine Vision hoffte. Aber in dieser Nacht würde er es tun. Er grinste ins Mondlicht. Falls ich schlafen kann. Dann sah er sich ein letztes Mal in der Siedlung um und zog sich danach in die Wärme seines Zeltes zurück, auf der Suche nach Schlaf und dem Wissen, das ihm der Schlaf manchmal brachte. In dieser Nacht hatte er keine Visionen, und auch in der nächsten nicht. Aber in der dritten geschah es endlich. Es begann, wie all seine Visionen, mit dem Bild seiner Mutter und seines Vaters mit weißem, schütterem Haar und faltigen, aber lächelnden Gesichtern. Sie standen vor ihm, mitten in der Siedlung, und reichten ihm den Stab mit dem Stein. Wie immer veränderte der Stein, sobald Gwilym die Hand darauf legte, die Farbe von dem dunklen Waldgrün seines Vaters zu seinem eigenen Goldbraun, der Farbe sonnengetrockneten Grases am Berghang. Und Gwilym hob den Stein dicht ans Gesicht und starrte in den hellen Schein, bis er nichts anderes mehr sah. Und wie üblich wurde er in diesem Augenblick an den Schauplatz seiner Vision getragen. Manchmal waren das andere Siedlungen oder eine abgelegene Bergregion. Manchmal trug ihn die Vision auch einfach an eine andere Stelle im Kreis der Zelte, manchmal blieb er, wo er war, aber die Tageszeit veränderte sich. Bei dieser Gelegenheit jedoch wurde er an einen Ort getragen, an dem er nie zuvor gewesen war. Nach Bragor-Nal.
Er wusste, dass es ein Nal sein musste, den kein anderer Ort konnte so widerlich stinken und sich so gefährlich und fremd anfühlen. Er war nicht sicher, wieso er wusste, dass es sich um Bragor-Nal handelte - das war einfach so. Er stand in einer schmalen Gasse zwischen zwei riesigen Gebäuden und schirmte das Glühen seines Steins vorsichtig ab. Es regnete, und er fror; der Umhang, den er trug und der sonst so viel Wärme spendete, selbst im Hochland von Dhaalmar, schien gegen die feuchte Kälte des Nal nicht sonderlich zu helfen. Von den Gebäuden tropfte Wasser auf seinen Kopf herunter, jeder Tropfen so kalt und fest wie ein Eissplitter. Mehr als alles auf der Welt wollte er weg von hier, wollte aus dem Nal zurück in die Berge. Aber er wartete auf jemanden. Ein Mann war auf dem Weg, der seine Hilfe brauchen und ohne sie sterben würde.
Also duckte er sich in eine Ecke und wartete. Eine Straßenlampe in der Nähe, deren Schirm gesprungen und zum Teil verfärbt war, warf ein trübes, gelbliches Licht, das auf dem nassen Pflaster glitzerte. Gwilym hörte, wie eine Frau in der Nähe lachte und aus einer anderen Richtung einen zornigen Wortwechsel zwischen zwei Männern.
Dann hörte er Schritte, leicht und vorsichtig, aber unverwechselbar. Als er sich dem Geräusch zuwandte, sah er eine Gestalt auf sich zukommen und schnappte ungläubig nach Luft. Das Herz schlug ihm plötzlich bis zum Hals. Denn das hier konnte kein anderer sein als Gildri selbst. Zumindest dachte Gwilym das zunächst. Der Mann trug einen Umhang aus waldgrünem Stoff, feiner als jene, wie ihn die Gildriiten trugen, und kunstvoller geschneidert. Er hatte einen wunderschönen dunklen Falken auf der Schulter, und in der Hand trug er einen Stab mit bernsteinfarbenem Stein, der ganz ähnlich aussah wie Gwilyms goldbrauner Kristall. Der Fremde war muskulös, hatte eine breite Brust und breite Schultern und bewegte sich anmutig, wie einer, der fest an sich und an seine Fähigkeiten glaubt. Er hatte einen kurz geschnittenen Bart und langes, blondes Haar, das er im Nacken zusammengebunden trug. Seine Augen waren dunkel, und er sah sich misstrauisch, wenn auch ohne Angst um.
Gwilym war immer noch überzeugt, Gildri vor sich zu haben. Aber eine andere Stimme in seinem Kopf - die des Mannes, der die Vision vom Strohsack im Zelt in Dhaalmar aus sah - verneinte das. Das hier war eine Vision, also musste sie der Wahrheit entsprechen. Und so gerne Gwilym auch der Legende persönlich begegnet wäre, dem Namensgeber seines Volkes, er wusste, dass dies unmöglich war. Außerdem berichteten die alten Geschichten, Gildri sei dunkelhaarig und drahtig gewesen und hätte einen Vogel mit hellem Gefieder gehabt.
Nein, das hier
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