Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
weil er groß genug war, um über die anderen hinwegsehen zu können. Er hatte den Blick seiner hellgrünen Augen auf Gwilyms Gesicht gerichtet. Urias war nun schon seit einiger Zeit der Sprecher der jüngeren Gildriiten. Er würde eines Tages einen gutes Oberhaupt abgeben. Gwilym lächelte in sich hinein. Vielleicht würde das sogar schon bald geschehen; vielleicht an diesem Abend, wenn die Siedlung sich für ihn entschied.
»Danke, Urias«, sagte er laut. Er holte tief Luft und betrachtete die vertrauten Gesichter vor ihm. Auf der ersten Bank sah er die alte Emlyn, die ihn mit geröteten Augen betrachtete, den Mund zu etwas geöffnet, was wie ein zahnloses Grinsen aussah, wenn man nicht wusste, dass sie jetzt immer so aussah. Sie hatte Gwilyms Mutter Beistand geleistet, als Gwilym zur Welt gekommen war, und sich auch um die Geburt von beinahe jeder anderen Person in der Halle gekümmert. Neben ihr saß Hertha, und bei ihr Nelya, Quim und Idwal. Weiter hinten sah er Siarl, der seit seiner Kindheit sein bester Freund war, bei Gwilyms Hochzeit mit Hertha an seiner Seite gestanden und ein paar Jahre später sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um Nelya zu retten, als sie sich kurz vor dem Beginn eines schrecklichen Unwetters zu weit von der Siedlung weggewagt hatte. Das hier waren seine Leute - die einzigen, die er je gekannt hatte. Er hatte ihre Hochzeiten und die Geburten ihrer Kinder mit ihnen gefeiert. Er hatte mit ihnen um den Tod ihrer Eltern und Männer und Frauen getrauert. Jeder Tag seines Lebens war unweigerlich mit ihnen verbunden gewesen. Und nun sollte er sie verlassen? Selbst vor dem Gedanken daran wich Gwilym innerlich zurück. Er spürte, wie ihm übel wurde. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte er ganz offen. »Sag uns, warum«, schlug Siarl freundlich vor. »Warum verlässt du uns?«
»Ja«, rief eine andere Stimme. »Was hast du gesehen?« Gwilym nickte. Das war die beste Möglichkeit, die er bekommen würde. »Es gibt einen Mann, der nach Bragor-Nal kommen wird. Sein Leben ist in Gefahr.«
»Trifft das nicht auf jeden in Bragor-Nal zu?«, fragte Unas. »Und nicht nur auf Männer, sondern auch auf Frauen und Kinder?«
Gwilym lächelte. »Selbstverständlich. Aber dieser Mann ist sehr wichtig für uns. Er ist ein Zauberer aus Tobyn-Ser.« Auf diese Bemerkung folgte erstauntes Flüstern, aber Gwilym sah Hertha an und fragte sich, ob diese Sache wirklich wichtig genug war, um zu rechtfertigen, was er tat. Urias trat eine Schritt von der Wand weg, und die Neugier, die sich so deutlich in seinen scharfen, knochigen Zügen spiegelte, ließ ihn aussehen wie einen Falken. »Warum kommt er her?«
»Ich wünschte, ich wüsste das«, erwiderte Gwilym. »Aber ich bin sicher, dass seine Ankunft in Lon-Ser große Veränderungen für unser Volk bringen wird. Deshalb kann ich nicht einfach zulassen, dass er getötet wird. Ich muss etwas unternehmen.«
»Aber Bragor-Nal, Gwilym!«, sagte Siarl. »Gibt es keine andere Möglichkeit, diesem Mann zu helfen, ohne dass du hingehst?« Mehrere andere nickten zustimmend.
»Ich wünschte, es wäre so, mein Freund. Glaub mir, ich wünschte, es wäre so. Aber ich weiß nicht, um was es geht, also ist das alles, was mir übrig bleibt.«
»Wenn das so ist«, warf Quim ein, »solltest du dann nicht wenigstens einen von uns mitnehmen?« Wieder taten mehrere ihre Zustimmung kund und boten an, mit ihm zu kommen.
Gwilym musste sich anstrengen, um die Tränen zurückzuhalten. Das hier waren seine Leute. Nicht zum ersten Mal freute er sich darüber, dass Nelya in Quim einen so guten Mann gefunden hatte. Er lächelte sie an und hoffte, sie würde seine Gedanken verstehen.
Er hob die Hände, um die anderen um Ruhe zu bitten. »Danke, Freunde. Es wäre eine viel leichtere und angenehmere Reise für mich, wenn ich auch nur einen von euch mitnehmen könnte. Aber das geht nicht.«
Mehrere begannen zu widersprechen, Urias und Siral am heftigsten. »Wir hatten einen guten Sommer, Gwilym«, sagte Quim, und andere nickten. »Wir können es uns leisten, ein paar Leute auf diese Reise zu schicken.« Wieder hob Gwilym die Hände. »Wir hatten wirklich einen guten Sommer«, stimmte er zu und sprach ein wenig lauter, damit sie ihm auch wirklich zuhörten. »Und bisher war die Ernte gut. Aber der Winter entscheidet immer selbst, was wir brauchen und was nicht. Ich muss euch doch nicht erzählen, dass ein guter Sommer nicht unbedingt einen leichten Winter verspricht, und der Wind
Weitere Kostenlose Bücher