Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
Visionen. Seit Wochen nicht.«
»Was dann?«
Er zuckte hilflos die Schultern. »Ich bin nicht sicher.« Er zögerte. »Es ist wirklich nur so ein Gefühl, nichts weiter.« Sie sah ihn forschend an. Sie hatte Messer und Gabel hingelegt und die Hände auf dem Tisch gefaltet. »Als stünde uns etwas Schlimmes bevor?«
»Nicht unbedingt etwas Schlimmes«, erklärte er, und er wusste, wie dumm sich das alles anhören musste und wie frustrierend seine Antworten für sie waren. »Aber etwas Wichtiges.« Etwas, das unser Leben verändert könnte, hätte er am liebsten gesagt. Aber wie sagte man so etwas, selbst wenn man der Träger des Steins war? Es klang so lächerlich, das wusste Gwilym, wie das schlimmste Melodram. Und dennoch war es da, noch unausgesprochen, aber es hallte in seinem Kopf wider wie Donner an einem Berghang. Etwas würde geschehen, das vielleicht ihr Leben verändern würde - und das Leben eines jeden Gildriiten in Lon-Ser. Endlich, nach tausend Jahren. Und Gwilym konnte nicht einmal seiner Frau sagen, was es war.
Solange Gwilym lebte, tatsächlich seit vor der Geburt des Großvaters seines Großvaters, hatten die Gildriiten im Dhaalmargebirge gelebt, weit entfernt von der Verfolgung, der sie unten in den Nals ausgesetzt gewesen waren. Gwilym erinnerte sich immer noch an die Geschichten, die sein Vater ihm erzählt hatte, kurz nachdem er vierzehn Jahre alt geworden war: wie gildriitische Familien von den Attentätern und Söldnern aus Bragor- und Stib-Nal gejagt worden waren und wie die Überlebenden erst in die Median- und Grünwasserberge und dann, als selbst diese Regionen nicht abgelegen genug gewesen waren, um dort in Sicherheit zu sein, hoch an die Hänge des Dhaalmar geflohen waren.
Sein Vater hatte ihm auch andere Geschichten erzählt, Geschichten, die seit hunderten von Jahren von Generation zu Generation weitergegeben worden waren. Denn die Geschichte von Gwilyms Volk bestand aus mehr als nur aus Trauer und Unterdrückung. Früher einmal hatte es auch Ruhm und Macht gegeben.
Angeblich hatte Gildri seine Leute vor tausend Jahren nach Lon-Ser geführt, nachdem man sie aus Tobyn-Ser verstoßen hatte. Über die Umstände dieses Exils war wenig bekannt, aber es hieß, die Gildriiten hätten gelernt, die Falkenmagie zu beherrschen, über die die Zauberer von Tobyn-Ser angeblich immer noch verfügten. Einige spekulierten, dass sie die Ersten gewesen waren, denen dies gelungen war, und dass man sie aus Angst vor der Schwarzen Kunst aus Tobyn-Ser verstoßen hatte. Zweifellos war man den Gildriiten bei ihrer Ankunft in Lon-Ser mit Angst begegnet. Als Gildri und seine Anhänger versucht hatten, in diesem Land einen Platz zu finden, hatten sie sich einem feindseligen, abergläubischen Volk gegenübergesehen, das Fremden misstraute und die Fähigkeiten der Zauberer fürchtete. Also waren die Gildriiten weitergezogen und hatten schließlich den Hof des Königs erreicht, der seine Herrscher und Oberlords ermutigte, die Gildriiten als Heiler und Berater anzunehmen. Die Gildriiten hatten diese Regelung akzeptiert, und so wurde die Gruppe aufgeteilt und ein paar waren in jedes der sechs Nals gezogen, die es damals gab.
Eine Zeit lang hatten sie großes Ansehen genossen und waren von der Oberschicht von Lon-Ser wegen ihrer Macht und ihrer Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, geschätzt worden. Aber dieser Zustand hatte nicht lange angedauert. Falkenmagie existierte in Lon-Ser nicht, und nach ein paar Jahren begann die Macht der Gildriiten geringer zu werden. All ihre Macht, bis auf den Blick. Ein paar Zauberer - jene, auf die ihre Auftraggeber sich wegen ihrer Weisheit oder ihrer Visionen verließen - behielten ihren Status ein wenig länger. Aber die meisten anderen, Gildri unter ihnen, wurden abermals ausgestoßen, und einige wenige, die im Dienst der gnadenlosesten Anführer standen, wurden für etwas, was man als Verrat betrachtete, hingerichtet. Ausgestoßen aus den Palästen der Anführer von Lon-Ser, unwillkommen in den Dörfern und Städten, hatten die Gildriiten das Land abermals durchstreift und sich schließlich niedergelassen und mit wechselndem Erfolg versucht, sich in die Gesellschaft von Lon-Ser einzugliedern. Mehrere hundert Jahre lang waren sie aus der Geschichtsschreibung von Lon-Ser verschwunden.
In dieser Zeit waren die Nals von locker miteinander verbundenen Gemeinden zu großen Städten zusammengewachsen und hatten sich weiter über das Land ausgebreitet. Gleichzeitig hatten die
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