Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
war ein lebendiger Mensch, ein Fremder in Lon-Ser. Wie Gildri vor ihm bediente er sich der Falkenmagie, aber da hörte die Ähnlichkeit auch schon auf. Wieder korrigierte sich der schlafende Gwilym. Es gab noch eine Ähnlichkeit, etwas, das er schon ein paar Nächte zuvor beim Abendessen mit Hertha erkannt hatte, ohne es vollkommen zu verstehen. Dieser Mann hatte ebenso wie Gildri die Macht, die Geschichte von Lon-Ser und das Leben der Kinder Gildris für immer zu verändern. Als er das erkannte, und während der Mann durch die Gasse weiter auf ihn zukam, ließ Gwilym die Hoffnung in seinem Herzen aufblühen wie Astern und Lupinen auf einer Dhaalmar-Wiese in der Sommersonne.
Aber schon im nächsten Augenblick spürte er, wie Angst sein Herz umschlang, als risse die Hand des Todes die Blüten ab. Zwei Männer erschienen plötzlich in der Gasse, als kämen sie direkt aus der Nacht. Und mit vollendet gleichmäßigen Bewegungen, mit einer so furchterregenden und tödlichen Eleganz, dass es beinahe schön anzusehen war, zogen beide ihre Waffen aus den langen Jacken, zielten auf den Fremden und schossen.
Gwilym erwachte abrupt. Sein Gesicht war schweißnass, und er zitterte am ganzen Körper. Eine einzelne Kerze beleuchtete das Zelt, und Hertha saß auf dem Strohsack neben ihm und streichelte ihm zärtlich über die Stirn. Er versuchte sich hinzusetzen, aber sie schüttelte den Kopf und schob ihn sanft wieder auf den Strohsack zurück. »Ruh dich aus«, flüsterte sie. »Versuche nicht, dich zu bewegen. Du hast lange geträumt.«
Gwilym schloss die Augen, schluckte und nickte. »Wasser?«, brachte er krächzend hervor.
Bald schon stützte Hertha ihn ein wenig und hielt ihm eine Tasse mit kühlem Wasser an die Lippen. Er trank gierig und ließ sich dann wieder auf den Strohsack sinken. Als er die Augen abermals öffnete, erkannte Gwilym, dass Hertha ihn forschend betrachtete und dabei ungewöhnlich besorgt aussah.
»Das war die Vision, auf die du gewartet hast.« Keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Ja.«
»Weißt du, was sie zu bedeuten hat?« Sie sprach sehr beherrscht, als fürchtete sie ihre eigene Reaktion auf das, was er sagen würde. Er war nicht daran gewöhnt, sie so beunruhigt zu sehen, und es ließ ihn selbst nur noch nervöser werden.
»Ich glaube schon«, erwiderte er vorsichtig.
»Und hast du eine gute Zukunft gesehen?«
Gwilym sagte nichts, aber er griff nach ihrer Hand und verschränkte seine Finger mit den ihren. Lange Zeit schwiegen sie.
»Ein Mann wird kommen«, sagte er ihr schließlich. »Ich glaube, er ist aus Tobyn-Ser.«
Sie riss die Augen auf. »Aus Tobyn-Ser? Bist du sicher?« »Er hat einen Vogel und einen Stab mit einem Stein.« »Ein Zauberer!«, hauchte sie.
»Ja«, stimmte Gwilym ihr zu. »Ich weiß nicht, wieso er herkommt - das habe ich nicht gesehen -, aber ich glaube, seine Ankunft kündet von wichtigen Dingen für unser Volk.«
Hertha nickte, immer noch mit staunendem Blick. »Ein Zauberer!«, wiederholte sie. »Und er ist auf dem Weg hierher.«
Gwilym holte tief Luft. Nun würde es schwierig werden. »Nein, Hertha. Nicht hierher.«
Sie starrte ihn an. »Aber du hast doch gesagt -«
»Ich sagte, dass ein Mann aus Tobyn-Ser kommt, aber ich sagte nicht, dass er hierher kommen wird.« Er zögerte. Es gab keine Möglichkeit, es ihr schonend beizubringen. »Ich habe ihn in Bragor-Nal gesehen.«
Sie wurde bleich. »Du warst ebenfalls dort?«
»Ich muss dort sein, Hertha. Ich habe gesehen, wie zwei Männer versuchten ihn umzubringen.« Gwilym setzte sich auf. Zu schnell. Ihm wurde schwindlig, aber er zwang sich weiterzusprechen. »Ich weiß nicht, ob sie Erfolg hatten oder nicht. Ich bin zu schnell aufgewacht. Aber ich weiß, dass ich dort sein muss, um ihm zu helfen, wenn ich kann.« Hertha stand auf und wandte sich von ihm ab. Er nahm an, dass sie weinte; sie wandte sich immer ab, wenn sie das tat. »Wie kannst du sicher sein, dass dieser Mann so wichtig ist?«, fragte sie mit bebender Stimme. »Vielleicht irrst du dich ja! Vielleicht ist er für uns ohne Bedeutung!« Sie sah ihn wieder an. Ihre Wangen waren tränenfeucht. »Oder vielleicht wird er unser Leben verändern, aber zum Schlechteren! Vielleicht ist es ihm ja bestimmt zu sterben! Hast du daran schon gedacht?«
»Hertha«, sagte er so sanft er konnte und streckte die Hand aus. Zögernd kam sie auf ihn zu und griff nach seiner Hand. »Er ist ein Zauberer«, erinnerte Gwilym sie. »Wie Gildri es war. Er kommt
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