Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
diesem Gedanken schaute Orris nach Westen, als könnte er durch die Wolken und den dünnen Schleier aus Schnee sehen. Er hatte nicht einmal eine vage Vorstellung von dem Ort, zu dem sie unterwegs waren. Ein Land, das aus Städten von der Größe von Tobyns Ebene bestand. Ein Land ohne Bauernhöfe und Wälder. Er schüttelte den Kopf. Wie konnte ein solcher Ort aussehen? Er schaute wieder nach vorn. Baram ging vor ihm her, schweigend und in sich zurückgezogen wie immer, die Arme verschränkt und ein wenig zitternd vor Kälte. Der Magier holte tief Luft. Der Fremde, dachte er und spürte, wie sich die Angst wie ein Stein in seinen Magen senkte. Bald werde ich der Fremde sein.
10
V ielleicht mit Ausnahme der fortgeschrittenen Werkzeuge, die in Lon-Ser benutzt werden, habe ich keinen Aspekt von Barams Heimat schwerer begreifen können als die Zusammenhänge von Handel und Produktion. Es ist auf so vielerlei Weise fremd, dass ich kaum Parallelen in meiner eigenen Erfahrung finden kann, um es begreifen zu können. Ein Teil des Problems besteht darin, dass in Lon-Ser Handel und Produktion untrennbar mit der Ausübung von Herrschaft verbunden sind. Wie die Potentaten von Abborij nehmen die Lords von Bragor-Nal Tribut von ihren Untertanen. Einen Teil davon geben sie jeweils an jene weiter, die ihnen übergeordnet sind, ebenfalls als Tribut, einiges behalten sie, und den Rest verteilen sie wieder an ihre Untergebenen, sodass diese sich ebenfalls um den Erhalt ihrer Teile des Nal kümmern. Bis zu diesem Punkt sind die Ähnlichkeiten zwischen dem Nal-System und dem Landpachtsystem von Abborij offensichtlich. Leider lässt sich der Vergleich nicht über diesen grundlegenden Punkt hinaus weiterführen, denn die Kompliziertheit des Handels im Nal ist atemberaubend.
Aus Kapitel Fünf des »Berichts von Eulenmeister Baden über seine Verhöre des Ausländers Baram«, vorgelegt auf der 1014. Versammlung des Ordens der Magier und Meister, im Frühjahr des Gottesjahres 4625.
Er saß auf einem großen Felsvorsprung, starrte ins Dunkel und lauschte den kleinen Wellen, die leise an das felsige Ufer unter ihm plätscherten. Ein kühler, feuchter Wind
wehte von Aricks Meer landeinwärts und brachte den Geruch nach Brackwasser und Algen mit. Ein paar helle Sterne glitzerten, aber die meisten waren hinter dem dünnen Nebelschleier verborgen, der zwischen der Nord- und der Südbucht über der Küste hing.
Bist du noch da, Baden?, sendete Jaryd mit einer Spur von Heiterkeit.
Der Eulenmeister lächelte ins Dunkel. Ja, entgegnete er, schloss die Augen und tastete abermals mit dem Bewusstsein nach seinem Neffen. Ich bin noch da. Ich habe nur versucht, einen Augenblick der Einsamkeit zu genießen. Aber das ist wahrscheinlich zu viel verlangt, wenn man so viele Leute im Kopf hat.
Du hast kein Recht, dich zu beschweren, schaltete Trahn sich ein. Immerhin war es deine Idee.
Ich persönlich habe von der Einsamkeit mehr als genug, fügte Jaryd hinzu.
Ich ebenfalls, Liebster, sagte Alayna.
Das reicht jetzt, ihr beiden, warf Mered ein. Jetzt wird es wirklich zu rührselig.
Baden lachte laut und spürte auch das Lachen der anderen. Er war erschöpft davon, die Verbindung mit den anderen aufrechtzuerhalten, und hätte gerne geschlafen, aber er genoss es auch, die Gedanken seiner Freunde zu teilen. Er war daran gewöhnt, umherzuziehen und nicht in einem bestimmten Teil des Landes zu bleiben. Es gefiel ihm, von einem Dorf zum anderen zu reisen und unterwegs viele Menschen kennen zu lernen. Er war, wie man es im Orden ausdrückte, ein Wanderer, kein Nister. Aber wegen des geistigen Netzes hatte er seine Wanderungen aufgegeben. Er blieb nun das ganze Jahr über hier an der Küste von Aricks Meer, diente ein paar Fischerdörfern und blieb ansonsten für sich. In gewisser Weise sah er die Verbindung, die er mit den anderen im Netz aufrechterhielt, als eine kleine Entschädigung für sein geringfügiges Opfer.
In vielerlei Hinsicht war das Netz ganz ähnlich wie seine Verbindung zu Golivas und den Vögeln, an die er vor ihr gebunden gewesen war. Er hatte Zugang zu den Gedanken und Gefühlen der anderen Magier, ebenso wie er Zugang zu denen der großen weißen Eule auf seiner Schulter hatte. Tatsächlich teilte er in einer oberflächlicheren Weise sogar die Bindung der anderen an ihre Vögel, und häufig bemerkte er zufällige Gedanken und Bilder, die nicht nur von Golivas oder den Magiern kamen, sondern auch von den anderen Vögeln. Das Netz
Weitere Kostenlose Bücher