Die Chroniken von Amarid 04 - Die Retterin des Landes
Wachen und deinem Waffenprüfer vorbeikommen, und dann wird er dich umbringen.«
»Mag sein«, erwiderte Cedrych ernst. »Aber du wirst diesen Tag nicht mehr erleben.« Wieder hob er die Waffe und zielte auf Wildons Herz. Aber dann überlegte er es sich im letzten Augenblick anders und veränderte sein Ziel. Und als er schoss, traf ein roter Blitz Wildons rechtes Auge.
Sie stand auf dem Balkon, schaute hinaus aufs Meer, lauschte den Wellen, die unten an den felsigen Strand brandeten, und spürte die Wärme der Nachmittagssonne auf Rücken und Schultern. Möwen stritten sich mit großem Geschrei um etwas Essbares, und warmer Wind pfiff an den gemeißelten Säulen des Geländers vorbei, auf das sie sich stützte. Hin und wieder hörte sie Marars Schritte, wenn er an der Tür vorbeikam, die zur Terrasse führte, aber ansonsten nahm Shivohn kein Geräusch wahr, das von Menschen erzeugt wurde.
Für gewöhnlich ärgerte sie Durells Zuspätkommen, und sie wusste, dass er es genau aus diesem Grund tat. Aber an diesem Tag störte es sie nicht. Friede und Einsamkeit waren ein Luxus, den sie lange nicht mehr genossen hatte. Sie holte tief Atem, genoss die klare Luft und den Geruch nach Meerwasser, und dann drehte sie sich zu dem Herrenhaus um.
Einstmals, vor hunderten von Jahren, hatten in diesem Haus Lon-Sers Könige residiert, und das Kap, auf dem es stand, war als Lons Kap bekannt gewesen. Aber nach der Abschaffung der Monarchie und der darauf folgenden Zeit der Bürgerkriege hatte man die Residenz der Monarchen als Relikt einer vergangenen Ära leer stehen lassen, und sie war von Plünderern heimgesucht worden. Erst nach der Festigung übernahmen die verbliebenen Herrscher das Haus und richteten es für ihre Ratssitzungen her. Und in ihrer Eitelkeit nannten sie das Kap des Gottes nun Herrscher-Kap.
Von außen gesehen war das Haus von schlichter Großartigkeit: ein Monument einer Zeit, als Lon-Sers Architekten weniger schwerfällig gewesen waren und ihre Schöpfungen sich noch in die natürliche Umgebung einfügten. Es bestand ganz aus Stein und schien am Ende der Welt zu stehen. Und dennoch, trotz seiner Nähe zum Meer hatte das Haus seit seiner Errichtung vor beinahe dreitausend Jahren fast unbeschädigt alle Naturgewalten überstanden.
Drinnen war es beinahe leer. Es gab eine moderne Küche dort, wo sich einstmals die große Feuerstelle befunden hatte, sechs der siebzehn Schlafzimmer waren möbliert, und das Ratszimmer enthielt bescheidene, aber bequeme Holzmöbel. Aber der Rest der Residenz hätte ebenso gut ein Grabmal sein können. Im Grunde passte das: Die Herrscher und ihre Diener waren die Einzigen, die das Gebäude je benutzten, und bis vor kurzem war der Rat nicht öfter als sieben- oder achtmal im Jahr zusammengekommen.
Shivohn drehte sich noch einmal um, um auf Aricks Meer hinauszuschauen. Ein kleiner Schwarm Kormorane flog vorüber; die schwarzen Vögel zeichneten sich deutlich vor dem hellgrünen Wasser ab. Vielleicht wird Durell überhaupt nicht auftauchen, dachte sie. Vielleicht kann ich den ganzen Tag hier draußen bleiben.
Und selbstverständlich hörte Shivohn wie aufs Stichwort Durells Stimme von drinnen. Er kommt immer zu spät, dachte sie und schüttelte den Kopf. Und dennoch ist er heute für meinen Geschmack eher zu früh.
Sie hörte Schritte, die sich der Balkontür näherten. »Er ist da«, sagte Marar.
Sie drehte sich um, aber der Herrscher von Stib-Nal war schon weitergegangen. Sie zuckte die Achseln und blieb, wo sie war. Die beiden würden ohnehin ein paar Minuten unter sich sein wollen. Durell musste Marar Anweisungen geben. Sie lächelte - allerdings war es ein trauriges Lächeln. Das war wirklich keine Art und Weise, ein Nal zu führen.
Tatsächlich brauchte sie nicht einmal so lange zu warten, wie sie gedacht hatte. Nur einen Augenblick später kam Durell auf die Terrasse heraus, ein herablassendes Lächeln auf den Lippen. Sein Gesicht war dicklicher als sonst, und seine Haut wirkte im hellen Sonnenlicht fleckig. Er sah nicht gut aus.
»Hallo, Shivohn«, sagte er und nahm eine ihrer Hände in die seinen. »Ich kann dir gar nicht deutlich genug sagen, wie Leid mir tut, was da passiert ist. Ich hatte keine Ahnung, dass mein Oberlord in solche Angelegenheiten verwickelt war. Ich verspreche dir, so etwas wird nicht wieder geschehen.« »Das kannst du dir sparen, Durell«, erwiderte sie kühl und zog ihre Hand weg. »Es tut dir nur Leid, weil er erwischt wurde.«
Durells Lächeln
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