Die Chroniken von Amarid 05 - Der Adlerweise
hat ihn offenbar verwirrt. Das hat ihm vermutlich einen Grund gegeben, dem er deine Unruhe zuschreiben konnte. Das war schlau von dir, Premel. Gut gemacht.«
»Danke, Herrscherin.« Er musste sich ein Lächeln verkneifen - wie seltsam, dass ihr Lob ihn immer noch so freuen konnte - und warf Jibb einen Blick zu.
Der General jedoch schaute ihn nicht einmal an, was wenig überraschend war. So war es, seit Premel seinen Verrat gestanden hatte. Wenn man davon absah, dass er ihn geschlagen und bedroht hatte, schien Jibb nichts mehr mit ihm zu tun haben zu wollen. Und eigentlich konnte Premel ihm das kaum übel nehmen. Melyor andererseits hatte ihn erstaunlich gut behandelt. Es schien beinahe, als akzeptierte sie, was er getan hatte, als verstünde sie seine Gründe, als wäre sie bereit, über seine Verbrechen hinwegzusehen. Noch vor ein paar Tagen hätte er solches Mitgefühl verachtet und als weiteren Beweis ihrer Schwäche betrachtet. Eine echte Herrscherin von Bragor-Nal hätte ihn auf der Stelle hinrichten lassen. Nur eine Gildriitin hätte sich so angestrengt, nicht nur sein Leben zu retten, sondern auch anderweitig auf ihn Rücksicht zu nehmen. Das hätte er sich zumindest eingeredet.
Aber nachdem er nun in den Genuss ihres Mitgefühls, ihrer Gnade und - wagte er, das zu hoffen? - ihrer Vergebung gekommen war, konnte er all das nicht mehr so leicht abtun. Vielleicht hatten die Veränderungen, die er in den letzten Jahren bemerkt hatte, sie doch nicht so viel schwächer werden lassen. Zweifellos bewirkte die Art, wie sie ihn in diesen letzten drei Tagen behandelt hatte, nicht, dass er schlechter von ihr dachte. Im Gegenteil: Es machte ihn demütig und bescheiden. Er hatte sie verraten. Aber statt ihn zu bestrafen, hatte sie eine Möglichkeit gefunden, seinen Verrat zu ihrem Vorteil zu nutzen. Und indem sie das tat, hatte sie ihm ein unendlich großzügiges Geschenk gemacht: eine Chance, sich zu bewähren. Er selbst hätte so etwas niemals fertig gebracht, und offenbar wäre auch Jibb nicht in der Lage dazu gewesen. Vielleicht, nur vielleicht, war Melyor ja stärker und weiser als sie beide zusammen.
Schon der Gedanke verblüffte ihn. Er stellte seine ganze Welt auf den Kopf. Und er zwang ihn, darüber nachzudenken, dass die Veränderungen, die Melyor für das Nal geplant hatte, vielleicht doch nicht ganz so dumm waren. Was seinerseits wieder bedeutete, dass er wirklich ein Idiot gewesen war, als er sie verraten hatte.
Vielleicht ging es ja genau darum. Indem sie ihn nicht bestrafte, hatte sie ihm gestattet, selbst zu diesem Schluss zu kommen. Sie hätte ihn töten oder ins Gefängnis werfen können - beides hätte ihr als Herrscherin zugestanden. Aber seine öffentliche Hinrichtung hätte jene, die gegen sie standen, nur weiter verärgert. Und im Gefängnis hätte er nur vor sich hin gebrütet, sein Hass gegen sie wäre gewachsen, und mit ihm der Glaube, dass es richtig gewesen war, sie zu verraten. Stattdessen hatte sie begonnen, sich seine Hochachtung zu verdienen. Zum zweiten Mal. Er war viel größer als sie und kräftiger gebaut, aber in diesem Augenblick fühlte er sich neben ihr wie ein Kind.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Jibb schließlich. Melyor zuckte die Achseln. »Wir müssen ein Feuergefecht inszenieren. Und ich nehme an, danach muss es so aussehen, als wären du und ich tot.«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein!«, sagte der General empört. »Wie weit werden wir das treiben? Machen wir Premel zum Herrscher und lassen ihn eine Allianz mit Marar schmieden? Vielleicht sollten wir zulassen, dass die beiden Oerella-Nal angreifen und das ganze verdammte Land in einen Bürgerkrieg stürzen!«
Melyor bedachte ihn mit einem säuerlichen Blick. »Beruhige dich, Jibb. Ich werde die Angelegenheit schon in der Hand behalten. Aber ich möchte, dass Premel wieder bezahlt wird, damit wir uns den Kurier schnappen können. Ich möchte wissen, wo das Gold herkommt.« »Kommt es denn nicht aus Stib-Nal?«
»Das bezweifle ich«, sagte die Herrscherin. »Wenn ich Agenten in anderen Nals bezahle, dann tue ich das durch Kaufleute und weitere Agenten. Ich schicke das Gold selten selbst.«
Jibb grinste. »Herrscherin!«, sagte er in gespieltem Entsetzen. »Du hast Agenten in anderen Nals?«
Sie lächelte müde, wurde aber sofort wieder ernst. »Und wer soll unser aufrührerischer Nal-Lord sein?«, fragte sie. »Irgendeine Idee?«
Jibb zögerte keinen Augenblick. »Jemand in Dobs Herrschaftsbereich. Er ist
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