Die Chroniken von Amarid 05 - Der Adlerweise
spürte er, dass die Macht ihn durchfloss wie die eisigen Wasser eines Bergbachs. Das Gefühl war gleichzeitig vertraut und fremd, denn obwohl Ishallas Macht ebenso kühl und rasch durch seinen Körper gerauscht war, war sein Falke nicht annähernd so stark gewesen. Innerhalb von Sekunden hatte Jaryd Radomils elfenbeinfarbenen Ceryll in dem weiten Dunkel gefunden, das man für eine Verschmelzung der Kristalle durchreisen musste. Er projizierte sein eigenes Saphirblau in den Stein des Eulenweisen und wartete dann darauf, dass Radomil den Prozess zurückverfolgte. Die gesamte Prozedur hatte ihn kein bisschen angestrengt.
Jaryd?, sendete Radomil.
Ja, Eulenweiser. Ich bin es.
Was für eine Überraschung! Ich wusste nicht, dass du dich wieder gebunden hast. Meinen Glückwunsch.
Danke, Eulenweiser. Gegen seinen Willen musste Jaryd lächeln. Er hatte Radomil schon als Kind gekannt. Der rundliche Eulenmeister hatte einmal Leoras Wald im nordwestlichen Tobyn-Ser gedient, wo sich auch Jaryds Heimatdorf Accalia befand. Und selbst jetzt noch, nachdem Jaryd schon ein Dutzend Jahre Ordensmitglied war, spürte er in Radomils Gedanken so etwas wie väterlichen Stolz, als der Eulenweise ihm gratulierte.
Hast du dich an eine Eule gebunden? Mered und ich haben das angenommen, da auch Alayna nun Eulenmeisterin ist.
Jaryd seufzte. Es würde nicht einfach sein.
Nein, Eulenweiser, es war keine Eule.
Jaryd spürte Radomils Verlegenheit. Es tut mir Leid, Jaryd. Ich wollte nicht...
Bitte entschuldige dich nicht, sandte Jaryd. Es gab keine Möglichkeit, dem Eulenweisen diese Nachricht schonend zu überbringen. Ich habe mich an einen Adler gebunden, Eulenweiser. Deshalb habe ich mich auch mit dir in Verbindung gesetzt. Ich war der Ansicht, dass du es sofort erfahren solltest.
Einige Zeit lang antwortete der Weise nicht. Wenn Jaryd nicht immer noch Radomils Entsetzen und Angst gespürt hätte, hätte er tatsächlich geglaubt, die Verbindung sei abgebrochen.
Arick möge uns beschützen, sandte der Eulenweise schließlich. Hast du es Baden schon gesagt?
Nein. Nach Alayna bist du der Zweite, der es erfährt. Ich habe angenommen, dass du eine Versammlung einberufen möchtest, um die anderen zu informieren und zu entscheiden, was wir als Nächstes tun sollten.
Was ich will, zählt nicht mehr. Du bist jetzt das Oberhaupt des Ordens.
Jaryd spürte keine Bitterkeit in Radomils Gedanken, keinen Zorn darüber, dass er seine Position so abrupt verlieren sollte. Er nahm einfach eine Tatsache zur Kenntnis. Soll ich den Rufstein benutzen, Adlerweiser?
Adlerweiser. Jaryd spürte, wie sein Mund trocken wurde. Er war einfach noch nicht bereit...
Jaryd?
Ja, sandte er schließlich. Das solltest du wohl tun. Also gut. Wenn du willst, werden Mered und ich in der Großen Halle bleiben, bis du mit Alayna eintriffst - ich nehme an, Alayna wird deine Erste sein.
Gerne. Danke, Radomil. Jaryd spürte, wie ihm schwindlig wurde. Vielleicht war es die Anstrengung, nach so langer Zeit wieder seine Macht einzusetzen. Oder die Erkenntnis, was aus ihm geworden war. Im Augenblick war das schwer zu sagen. Aber er spürte, wie die Verbindung mit Radomil schwächer wurde.
Ich will noch nicht, dass andere es erfahren, Radomil, sandte er und strengte sich verzweifelt an, klar zu denken.
Nur du und der Erste. Und Baden, aber dem werde ich es selbst sagen. Ich möchte nicht, dass Panik aufkommt. Falls jemand fragen sollte, sag ihnen einfach, dass ich um die Einberufung einer Versammlung gebeten habe.
Ich verstehe, erwiderte Radomil, dessen Gedanken mit jedem Augenblick in weitere Ferne zu rücken schienen. Möge Arick euch auf eurer Reise behüten, Adlerweiser. Und möge er euch rasch zu uns bringen.
Dann war Radomil verschwunden. Jaryd öffnete die Augen und sah, dass der Sternenhimmel begonnen hatte sich zu drehen wie ein Kreisel. Rithlar schien kein bisschen müde zu sein, und ihre Kraft hatte während seines Austauschs mit dem Eulenweisen keinen Moment lang nachgelassen. Aber er selbst war erschöpft davon, die Magie weiterzuleiten, die sie ihm verlieh. Und nicht zum ersten Mal an diesem Tag fragte er sich, wieso die Götter ihn für diese Bindung auserwählt hatten.
»Es muss andere geben, die besser für so etwas geeignet sind«, sagte er ins Dunkel. »Es muss andere geben, die stärker und weiser sind.«
Wieder schmiegte sich Rithlar zärtlich an ihn, wie sie es schon einmal getan hatte. Ich habe dich auserwählt, schien sie zu sagen. Was immer daraus
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