Die Chroniken von Amarid 06 - Der Friede von Lon-Tobyn
wirklich begriffen hatte, was geschah, war sie von einem so blendenden Licht umgeben, dass sie fast nichts mehr sehen konnte. Trevdan war wieder bei ihr, und das hätte ihr eigentlich alles verraten sollen. Aber erst als Theron zu ihr kam, kalt und distanziert und dennoch auf seine eigene Art reumütig, verstand sie ihr Schicksal vollständig.
Sie war ein Geist, würde den Trost der Ruhe und der Umarmung der Götter nicht erhalten, und das lag an Therons Fluch. Sie würde eine Ewigkeit im Licht verbringen - Licht in der Farbe ihres Cerylls -, und sie würde in den Schatten von Tobyns Wald umherwandern, in Hörweite des Flusses Halcya und in Sichtweite der Pamesheimberge. Zumindest erinnerte sie sich so an diese Stelle, an den Ort ihrer Bindung an Trevdan, ihren ersten und einzigen Vogel. Sie hörte vieles, und sie konnte einiges von dem sehen, was im Land vorging, aber sie konnte sich nicht an der Musik des Flusses und der Schönheit der Berge erfreuen. Solche Aussicht, solche Geräusche waren ihr nicht zugänglich. Sie befand sich in einem leuchtenden Gefängnis; sie war tot. Ebenso wie der andere Magier. Ein neuer. Hywel hatten ihn die Stimmen in ihrem Kopf genannt. Er hieß Hywel. Er war jetzt in Leoras Wald, an der Stelle, an der er sich an seinen ersten Falken gebunden hatte, obwohl er anderswo gestorben war. Rhonwen würde zu ihm gehen, wenn die Zeit gekommen war. Nicht jetzt, nicht heute, nicht einmal morgen. Theron würde als Erster mit ihm sprechen. Theron sprach als Erster mit ihnen allen, und das war nur angemessen. Es war sein Fluch, sein Kreis. Und wenn Theron fertig war, wenn sein smaragdgrüner Schimmer sich zurückzog und der neueste Unbehauste mit seiner Angst und seiner Verzweiflung allein zurückblieb, ging Phelan als Nächster zu ihm, tröstete ihn, so gut er konnte, und bot ihm ein wenig Freundlichkeit an einem Ort endloser Grausamkeit.
So war es für alle Neuen. Es war eine Art Ritual, wenn auch ein seltsames. Theron und Phelan. Einer war der verhassteste Mann, der je in diesem Land einhergegangen war, der andere wurde - wenn man von Amarid einmal absah - mehr als jede andere Gestalt in Tobyn-Sers Geschichte geliebt und verehrt. Aber in ihrer Zeit bei den Unbehausten hatte Rhonwen begriffen, dass an diesen beiden jeweils gleichzeitig mehr und weniger war, als die Legenden vermittelten. Sie waren Menschen oder genauer gesagt die Geister von Menschen. Und wie alle Menschen hatten sie Fehler und Tugenden.
Theron war arrogant und barsch. Selbst nachdem sie nun seine Gedanken teilte, spürte sie, wie zurückgezogen er war, wie sehr er sich von den anderen distanzierte. Er schien unfähig zu Wärme oder Freundlichkeit. Aber er war kein schlechter Mensch, wie Rhonwen einmal angenommen hatte. Sie gab es ungern zu, aber es war klar, dass Theron bereute, was er getan hatte. Er wusste, der Fluch war ein Fehler gewesen, und obwohl er sich bei der Begrüßung der Neuen nicht entschuldigte oder ihnen auch nur Mitgefühl entgegenbrachte, war die Geste selbst, wie sie inzwischen wusste, eine Art von Buße.
Phelan andererseits war reine Freundlichkeit. Schon der Klang seiner Stimme, warm und tief wie die Morgenflut, hatte ihr am ersten Tag ein wenig Trost gegeben. Er war so nett zu ihr gewesen, so höflich, dass es ihr peinlich gewesen war, dass ein so großer Mann wie er sie derart behandelte. Und dennoch erwies sich sein Trost, wie freundlich er ihn auch meinte, als recht leer. Es wurde nicht einfacher, es gab keinen Aufschub von der Langeweile und der Einsamkeit und dem Bedauern. Phelan, der freiwillig ein Unbehauster geworden war, damit er die Ewigkeit mit seinem geliebten Wolf verbringen konnte, hatte keine Ahnung, was es bedeutete, gegen seinen Willen Opfer von Therons Fluch zu werden.
Also würde sie warten, bis sie dran war, und wenn die Zeit gekommen war, würde sie mit Hywel sprechen, der erst der zweite Magier war, der seit ihrem Tod ihren Kreis betreten hatte. Und sie würde ihm erzählen, was sie von ihrer Existenz in diesem Reich aus Licht und Dunkelheit wusste. Dass das größte Leid nicht vom Fluch selbst kam oder von Theron, sondern von dem Bedauern und dem Verlust der Liebe, die dieser Fluch mit sich brachte. Dass selbst, wenn sich die Stimmen in seinem Kopf sammelten und er lernte, sie zu verstehen und zu unterscheiden, keine Gemeinschaft vorhanden war, kein Trost, keine Freundschaft, keine Liebe. Sie waren nur Licht und Erinnerung, und es wurde niemals leichter.
Aber im nächsten
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