Die Chroniken von Amarid 06 - Der Friede von Lon-Tobyn
aus nach Osten auf Tobyns Wald und Amarid zu. Bei Tag hätte kein Lebender etwas erkennen können, und selbst bei Nacht hätte ein zufällig Vorbeikommender vielleicht den Stab gesehen und vielleicht eine kleine Pfütze gelben Lichts ganz unten, wo Sartols Macht in den Boden sickerte, aber kaum mehr. Nur die Unbehausten sahen alles und wussten nach dieser Vision, was Sartol getan hatte. Er war durch Therons Fluch an dieser Stelle auf der Ebene verwurzelt, aber indem er den Ceryll der unglücklichen Magierin benutzte, hatte er eine Möglichkeit gefunden, seine Reichweite auszudehnen. Jeder von ihnen hätte es tun können, denn sie waren alle reine Magie. Aber dazu hätte man des schrecklichsten Verstoßes gegen Amarids Gesetze fähig sein müssen. Das hier war nichts anderes als Vergewaltigung. Ein Mann, der dazu im Stande war ...
Rhonwen gestattete sich nicht zu Ende zu denken. Sicher, sie war ein Geist, sie war tot und nichts weiter. Aber sie liebte das Land noch immer, und sie glaubte nach wie vor an die Magie und alles, wofür sie stand. Amarids Erbe auf solche Weise pervertiert zu wissen, war kaum zu ertragen. Und sie konnten nichts tun.
»Wenn er den Fluch irgendwie abgeändert hätte«, sagte Theron, »hätte uns das die Freiheit gegeben, ihn ebenfalls zu ändern. Dann könnten wir ihn vielleicht aufhalten. Aber solange keiner von uns das Gleiche tun will wie Sartol, sind wir machtlos.«
»Können wir nicht zumindest jemanden warnen?«, fragte Rhonwen. »Damit sie der Liga und dem Orden Bescheid sagen können, dass Sartol unterwegs ist.« »Selbstverständlich«, sagte Theron. »Aber dazu muss erst jemand zu uns kommen. Wir haben keine Möglichkeit, uns ihnen von uns aus zu nähern.«
»Wir sind reine Macht«, sagte einer von ihnen verbittert, »und dennoch sind wir machtlos.«
Rhonwen schüttelte den Kopf. Sie hätte weinen mögen, aber ihr Zorn ließ nicht einmal das zu. Stattdessen starrte sie in das strahlende Licht, das sie umgab. Und einen Augenblick glaubte sie, aus großer Ferne Lachen zu hören.
»Ich habe Hunger, Mama«, sagte Myn, als Alayna sie durch den Irrgarten von Marktbuden im alten Teil von Amarid führte.
Alayna suchte nach einem bestimmten Händler, einem Mann, bei dem sie ein Hemd für Jaryd kaufen wollte. Sein Geburtstag war bereits vorüber, aber bei allem, was geschah, hatten sie ihn kaum feiern können.
»Ich weiß, Myn-Myn«, sagte sie. »Ich auch. Ich will nur noch diesen einen Händler finden, und dann holen wir uns etwas zu essen, in Ordnung?«
»Kann ich etwas Süßes bekommen?«
Alayna lachte. »Vielleicht. Nach dem Essen.«
Sie gingen weiter. Alayna suchte nach dem Händler, und Myn summte vor sich hin.
»Ich hatte letzte Nacht einen Traum, Mama«, sagte das Mädchen nach einiger Zeit.
»Wovon hast du denn geträumt?«, sagte Alayna zerstreut und sah sie stirnrunzelnd an. Der Mann war doch sicher noch nicht weitergezogen? Es war eigentlich noch zu früh für die Kaufleute aus dem alten Teil von Amarid, in die kleineren Städte aufzubrechen.
»Es ging um einen Mann, der auf dem Weg hierher ist.«
Alayna blieb stehen und schaute auf ihre Tochter hinab. Sie hatten das Haar des Mädchens heute im Nacken zusammengebunden, und mit dieser Frisur und der Sonne, die in ihren grauen Augen blitzte, sah Myn Jaryds Mutter sehr ähnlich.
»Was für eine Art von Traum war es denn, Myn-Myn?« »Ein wahrer. Die Art, die du und Papa manchmal auch haben.«
Eine Vision. Alayna spürte, wie ihr Herz zu rasen begann, und sie musste sich anstrengen, ruhig zu bleiben. »Myn, das ist jetzt sehr wichtig: Ist dir noch etwas von dem Mann aus deinem Traum in Erinnerung?«
»Ich mochte ihn nicht besonders.«
»Warum nicht?«
Myn zuckte die Achseln. »Ich glaube, er war böse. Und ich glaube, ihr beide, du und Papa, mögt ihn auch nicht.« »Wie kommst du darauf?«, fragte Alayna und hockte sich neben sie.
»Ich bin nicht sicher. Du hast irgendwie böse ausgesehen, als du ihn angeschaut hast.«
»Hat er irgendetwas gesagt? Oder haben wir etwas zu ihm gesagt?«
Myn starrte ihre Füße an und zuckte wieder die Achseln. »Ich weiß es nicht, Mama. Ich habe mich selbst zu früh aufgeweckt. Es hat mir nicht gefallen.«
»Hat er dir ein bisschen Angst gemacht, Myn-Myn?« Sie nickte.
»Dann war es ganz richtig, dass du aufgewacht bist.« Sie zögerte. Sie wollte nicht, dass Myn sich an etwas erinnerte, das ihr Angst machte, aber sie wusste auch, wie wichtig es sein konnte, so viel wie
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