Die Chroniken von Amarid 06 - Der Friede von Lon-Tobyn
»Und wir glauben alle, dass sie eines Tages Magierin sein wird, und eine sehr mächtige dazu. Bei Eltern, wie Myn sie hat, wäre etwas anderes unmöglich. Aber im Augenblick ist sie nur ein Kind. Sie ist kaum alt genug, um den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fantasie zu kennen. Ihr könnt von uns nicht erwarten, dass wir glauben, sie könnte zwischen Visionen der Zukunft und einfachen Träumen unterscheiden.«
»Baden hat Recht«, fügte Orris hinzu. »Es ist selbst für Magier nicht immer leicht festzustellen, ob wir eine Vision hatten oder geträumt haben. Einem Kind so etwas zuzutrauen, selbst wenn es Myn ist, ist einfach zu gefährlich.« Alayna versuchte ihnen klar zu machen, dass sie Unrecht hatten, dass selbst ein Kind in Myns Alter wusste, was Wirklichkeit war und was nicht. Und an diesem Punkt erhielt sie Unterstützung von Trahn, der selbst zwei Töchter hatte. Aber die anderen ließen sich nicht überzeugen.
»Es ist einfach unsinnig«, sagte Radomil mit gequälter Miene. »Glaubt ihr denn nicht, dass es jemand bemerkt hätte, wenn der Fluch irgendwie verändert worden wäre?«
»Das muss nicht unbedingt sein«, antwortete Trahn. »Es ist nicht gerade so, dass einer von uns viel Zeit mit den Unbehausten verbringen würde. Solange wir sie nicht brauchen, meiden wir den Kontakt mit ihnen. Und die Menschen von Tobyn-Ser fürchten sie. Ich bin nicht sicher, ob irgendetwas passiert ist, das den Fluch verändert hat, aber ich bin überzeugt, dass niemand es bemerken würde, wenn es der Fall wäre.«
»Und selbst wenn«, sagte Alayna, »wie sollten sie es uns wissen lassen? Wenn wir da draußen wären, durchs Land zögen, mit den Menschen sprächen, wie wir es für gewöhnlieh tun, dann wäre das eine Sache. Aber wir sind hier, hunderte von Meilen von Sartols Bindungsort entfernt. Wenn dort etwas geschehen ist, werden wir die Letzten sein, die davon erfahren.«
»Du hast Recht«, stimmte Orris ihr zu. »Und vielleicht ist das das Problem. Vielleicht waren wir zu lange hier, haben von Krieg gesprochen, uns auf den Krieg vorbereitet und uns gefragt, was uns in einem Krieg bevorstehen wird. Vielleicht hat das unser Urteilsvermögen getrübt.« »Du meinst unser Urteilsvermögen, nicht wahr?«, verbesserte Jaryd. »Alaynas und meines.«
Der große kräftige Mann schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht gesagt.«
»Aber du hast es gedacht, nicht wahr?«
»Keiner von uns stellt dein Urteilsvermögen in Frage, Jaryd«, warf Baden ein. »Und auch nicht das von Alayna. Aber ihr beide tragt nun schon seit einiger Zeit eine gewaltige Last. Wenn einer von uns in eurer Situation wäre, würden wir hin und wieder auch etwas durcheinander geraten.«
»Durcheinander?«, entgegnete Jaryd erbost. »Ist es das, was du denkst?«
Sonel legte die Hand auf Badens Hand und stellte sich neben ihn. »Ich denke, Baden meint, dass es selbst zu den besten Zeiten und für die erfahrensten Anführer nicht immer einfach ist, den Überblick über all die möglichen Gefahren und Probleme zu behalten, denen wir gegenüberstehen, und die ernsteren von den weniger ernsten zu trennen. Ihr beiden habt bisher unter schrecklich schwierigen Umständen gute Arbeit geleistet, und wir glauben alle, dass ihr es weiterhin tun werdet. Aber in dieser einen Sache wird eure Wahrnehmung vielleicht dadurch getrübt, dass Myn eure Tochter ist.«
Jaryd stand auf und griff nach seinem Stab. »Wenn ihr das glauben wollt, schön. Es steht euch frei abzutun, was wir euch erzählt haben. Ja, wir sind müde, und wir sind besorgt. Und ja, Myn ist unsere Tochter und wir lieben sie mehr als alles andere auf dieser Welt. Aber selbst wenn sie eine Fremde wäre, würde ich sehr genau darüber nachdenken, bevor ich ihre Vision einfach abtäte. Alayna und ich haben ihr nie von Sartol erzählt. Ich wäre überrascht, wenn sie den Namen zuvor überhaupt je gehört hätte. Aber gestern hat dieses Kind, das den Blick hat und das noch vor Alayna und mir wusste, dass wir nach Amarid gehen würden, um unsere Plätze am Kopf dieses Tisches einzunehmen, ihn uns beschrieben, als hätte sie ihn gerade persönlich gesehen. Wenn einer von euch mir das erklären kann, wenn möglich auf eine Weise, die mich beruhigt, dann bitte. Aber bis dahin ist es meine Verantwortung, davon auszugehen, dass Sartol auf dem Weg hierher ist.« Er hielt inne und starrte alle am Tisch wütend an. Und keiner von ihnen sagte ein Wort. »Die Versammlung ist für heute beendet«, erklärte er und
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