Die Chroniken von Gonran 1: Stärke oder Tod (German Edition)
die Tür aufgerissen. Marcy starrte ihn an. „Zeit zum Schlafen, Dummkopf!“
Dann erblickte sie den silbernen Umschlag.
„Was machst du da?!“, herrschte sie ihn an.
Bei ihrem Anblick fuhr Pete hoch. Schnell drehte er den silbernen Umschlag um, damit Marcy die Inschrift nicht lesen konnte.
„Ich versuche schon zu schlafen, Miss Morgan“, sagte er erschrocken, aber fast schon übertrieben gehorsam.
Sie neigte ihren Kopf zur Seite, der eher aussah wie eine Trommel mit Perücke, und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Pete wusste, dass sie ihm normalerweise den Umschlag für immer weggenommen hätte. Aber sie hatte schon einmal erfahren, was dann passierte, und diese Erfahrung würde sie nicht noch einmal machen wollen.
„Dein Umschlag, ich muss den der Polizei melden. Da stimmt etwas ganz und gar nicht damit. Der ist gefährlich für uns alle hier.“
Es war ihr offensichtlich ziemlich egal, ob der Umschlag auch eine Gefahr für Pete darstellen könnte. Aber um die anderen Kinder in ihrer Verantwortung und vor allem um sich selbst, da machte sich Marcy schon Sorgen.
„Ich ruf gleich nachher die Polizei an, was ich schon viel früher hätte tun sollen. Wenn die kommen, wirst du ihnen den Umschlag geben, hast du verstanden!?“
Pete schaute sie erschrocken an. Was sollte er ihr bloß sagen? Da ihm nichts Besseres einfiel und er so kurz vor dem geplanten Treffen stand, das hoffentlich vor dem Eintreffen der Polizei stattfinden würde, sagte er: „Ja, Miss Morgan.“
Er konnte es zwar mit Marcy aufnehmen, aber bestimmt nicht mit der Polizei.
Marcy Morgan nickte, schmiss ihm ein Sandwich aufs Bett und marschierte weg.
Pete schloss die Tür hinter ihr und sank auf den Boden.
Nicht jetzt, wo ich doch so kurz davor bin, meine Eltern zu sehen, nicht jetzt!
Verzweifelt schaute er auf die Uhr: 21:47 Uhr.
Okay, das wird schon, bleib jetzt bloß ruhig .
Er schloss die Augen und überlegte.
Marcy wollte den Umschlag und rief gleich die Polizei. Bis die jedoch hier herkam, dauerte es mindestens noch eine Stunde. Sie war ja schon öfter hier gewesen, das letzte Mal, als ein alter Mann auf dem Acker tot umgefallen war. Da damals ein Mord nicht ausgeschlossen werden konnte, war die Polizei sicher so schnell es ging gekommen. Damals dauerte dies eine Stunde. Jetzt war es 21:50 Uhr.
Da diese Sache bestimmt nicht so dringend war, konnte es sein, dass die Polizei etwas später eintraf. Aber er wollte nichts riskieren. Er hatte also ungefähr bis 22:50 Uhr Zeit, dann musste er weg sein oder er würde noch länger im Waisenhaus bei Marcy schmoren.
3. KAPITEL
Pete nahm all seinen Mut zusammen und machte sich auf den Weg. Jetzt war es an der Zeit zu beweisen, dass er wirklich ein Powell war. Er würde dies jetzt schaffen. Egal was da draußen passieren würde heute Abend. Und endlich würde er seine Eltern richtig kennenlernen.
„Auf geht’s, Pete!“, feuerte er sich leise an.
Pete öffnete nochmals seinen Pausensack, prüfte den Inhalt, schaute auf den Wecker und ließ vor Schreck den Sack auf den Boden fallen. 22:30 Uhr! Ungläubig ging er zum Wecker. „Ufffffff“, zischte es aus ihm hervor, dies war die Zeit des Weckalarms und nicht die Uhrzeit; ein Stein fiel ihm vom Herzen. Es war nun 22:03 Uhr.
Er nahm den Wecker, schaltete den Alarm aus und packte ihn in den Pausensack. Da er wegen der Polizei auf der Hut sein musste und die genaue Uhrzeit 23:31 Uhr nicht verpassen durfte, war der Wecker unverzichtbar.
Zum Glück habe ich nochmals darauf geschaut!
Er prüfte ein letztes Mal, ob er wirklich nichts Wichtiges vergessen hatte. Die Fotos seiner Eltern waren in seinen Hosentaschen und der Umschlag fest in seiner Hose unter den Gürtel geklemmt. Pete war bereit; es war an der Zeit zu entdecken, was es wirklich mit diesem Umschlag auf sich hatte!
Pete schaute sich sein Bett mit nachdenklicher Miene an; hier hatte er so viele Jahre seines Lebens verbracht. Trotz allem war ihm der Ort ans Herz gewachsen. Er kannte ja auch nichts anderes. Er hatte das seltsame Gefühl, ja die Gewissheit, dass er nicht mehr zurückkehren würde. Was auch immer geschähe, seine Zeit war jetzt gekommen. Er wusste dies tief in sich. Pete nickte ruhig.
„Nun denn, auf geht’s, Pete!“, murmelte er sich bestätigend zu.
Ein letztes Mal wanderten seine Hände in die Hosentaschen; die Bilder seiner Eltern waren beide da. Er atmete tief durch, drehte sich von seinem Bett weg und lauschte an der
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