Die Chroniken von Ninavel – Die Blutmagier
sich seltsam verformte Felsnadeln aus dem Geröll. An einem anderen Tag hätte er die Schönheit der Landschaft bestaunt. Heute aber dachte er in einem fort an Pello. Womit ließe sich ein Schatten einschüchtern?
Sacht wie eine seichte Uferwelle schlug Magie an seine Barriere. Mit Herzklopfen richtete er sich auf und strengte seine Sinne an. Hatte Ruslan …
Ein lautes Knacken war zu hören. Dev fuhr auf und ließ den Wasserschlauch fallen. Angespannt blickte er zu den Felsspitzen hoch. Die Kutscher auf den Wagen hinter ihm waren in derselben Haltung erstarrt.
Kiran spürte nichts Magisches mehr. »Dev, was …«
Dev schnitt ihm mit ruppiger Geste das Wort ab und blickte, eine Hand über den Augen, weiter zu den Felsspitzen hinauf. Kiran sah nur Felsen und Schnee und eine kleine Dunstwolke, die von dort aufstieg.
»Suliyya, Mutter aller Jungfrauen«, flüsterte Dev mit hörbarer Angst. Kiran wurde starr. Er setzte gerade zu einer Frage an, als Dev einen lauten Pfiff ausstieß. Der wurde von anderen beantwortet, und an der Spitze des Konvois läutete die Glocke Alarm.
Lawine! Mit erschreckender Klarheit erkannte Kiran Ruslans Absicht. Entweder er brächte sich noch rechtzeitig in Sicherheit oder es bliebe ihm nichts anderes übrig, als Magie einzusetzen. Er griff zum Zügel.
Dev schlug ihm die Hand weg und packte seinen Arm. »Setz dich hinter mich«, befahl er scharf.
»Aber mein Pferd …«
»Halt’s Maul und tu’s, verdammt!« Dev packte Kiran am Gürtel und zog. Kiran brachte das Bein kaum rechtzeitig hoch, um auf den Rücken der Stute hinüberzurutschen. Dev zog sein Messer und schnitt den Wallach vom Wagen los, warf die Zügel Harken zu und rief: »Keine Zeit mehr, um die Bahn freizumachen. Reite hinter eine Felsnadel!«
Kiran sah Harkens fahles Gesicht und die schreckgeweiteten Augen, bevor Dev seiner Stute die Sporen gab. Wiehernd galoppierte sie los. An schreienden Maultieren und Männern vorbei donnerten sie die Straße hinunter. Kiran wagte einen Blick zum Kamm hinauf. Die eben noch harmlos aussehende Wolke war beträchtlich gewachsen.
Dev fluchte und riss den Kopf der Stute zur Seite. Sie sprang von der Straße zu einem der verdrehten spitzen Felsen, der breiter war als die anderen. Dev trieb sie den steilen Schotterhang neben der Felsnadel hinauf. Das Pferd ging langsamer und kämpfte auf den wegrutschenden Steinen schnaubend um Halt. Jetzt, wo das Hufgeklapper nicht mehr alles andere übertönte, hörten sie ein tiefes Rumpeln, das die Luft zum Zittern brachte.
»Was ist mit den Wagen?«, rief Kiran an Devs Ohr.
»Zu spät«, antwortete Dev knapp über die Schulter.
Kiran drehte den Oberkörper. Die Wolke wuchs und fegteden Berghang hinab auf die lange Wagenreihe zu. Mit fliegender Hast versuchten sich die Leute in Sicherheit zu bringen.
»Aber all die Menschen …«
»Ich weiß.« Devs Stimme war tonlos. »Wir können nichts tun. Wenn wir es überstehen, graben wir nach Überlebenden.«
Das Rumpeln wurde so laut, dass man die Schreie der Bedrohten kaum noch hörte. Aber in Kirans Erinnerung schrie jemand anderer. Ein Kaleidoskop von Bildern wirbelte durch seinen Kopf: Ruslans lange Finger blutüberströmt, Lizavetas kaltes, distanziertes Lächeln, Alisas tränenschimmernde, angstvolle Augen, Dev in der Wand des Brudermörders verzweifelt nach Halt tastend.
Hunderte würden umkommen, wenn Kiran seine Furcht wieder siegen ließe wie am Brudermörder.
Er ließ Devs Taille los, sprang vom Pferd und landete plump auf allen Vieren.
»He, was soll das werden?«, schrie Dev, wendete mühsam sein Pferd und griff nach Kirans Arm. Kiran duckte sich weg und rannte mit großen Schritten stolpernd und taumelnd den Schotterhang hinab.
Der Konvoi wäre am ehesten zu retten, wenn Kiran sich zwischen die Wagen und die Lawine stellte. Aber würde er es bis dorthin schaffen? Das größere Problem war jedoch, dass er mehr Kraft brauchen würde, als er noch hatte, und die einzige Kraftquelle in Reichweite war die Ikilhia der Leute, die er retten wollte.
Wenn er sich sehr konzentrierte, würde es vielleicht gelingen, Ikilhia nur aus den Zugtieren zu ziehen und die Menschen zu verschonen. Das musste er versuchen. Die Angst tobte in seinen Eingeweiden und verfinsterte seine Gedanken. Alle Hoffnung, unentdeckt zu bleiben, wäre im selben Moment dahin. Wenn er es aber nicht täte, wäre der Preis für seine Sicherheit unerträglich hoch.
Kiran gelangte auf die Straße und flitzte zwischen
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