Die Chroniken von Ninavel – Die Blutmagier
Ich klaute damals alles von kunstvollen sulanischen Knochenskulpturen bis zu den geheimen Berichten eines Agentenführers.
»Ich bin noch niemandem begegnet, der stark behaftet ist. Konntest du wirklich fliegen und Schutzzauber überwinden, wie es in den Geschichten geschildert wird?«
Mutter aller Jungfrauen, die Erinnerung brannte wie Salz in einer Wunde. »Ja.«
Bei meinem bitteren Ton merkte er auf. »Es tut mir leid. Ich wollte nicht … ich war nur neugierig.«
»Ich weiß.« Wie die meisten Leute. Selbst gebürtige Ninaveler, die selbst ein bisschen behaftet gewesen waren, stellten gern solche Fragen. Mir fiel es trotzdem nicht leicht, darauf zu antworten. Ehe mir ein anderes Thema einfiel, stellte er die nächste Frage.
»Was passierte danach, nachdem du …?«
»Mein Hehler verkaufte mich an jemand anderen.« Auch solche ungebetenen Erinnerungen. Die ersten Wochen bei Tavian waren eine schwarze Lücke in meinem Gedächtnis. Manche Behaftete kommen aus der vernichtenden Depression nach dem Wandel nicht mehr heraus und sterben, weil ihnen alles egal geworden ist. So hätte es mit mir auch laufen können, wenn Jylla nicht gewesen wäre. Ihr Hehler verkaufte sie ein paar Wochen vor mir an Tavian. Irgendwie brachten wir uns gegenseitig durch. Den ersten Schock verwandelten wir in Wut, dann in Entschlossenheit.
Ich hatte geglaubt, uns würde nichts auseinanderbringen. Dennoch stahl sie mir jeden Kenet, der mir gehörte, und warf mich weg, als wäre das alles bedeutungslos, was wir zusammen gehabt hatten. Mürrisch trat ich Stufen in eine Schneewehe.
»Dein Hehler hat dich an einen Vorreiter verkauft?«, fragte Kiran.
»Natürlich nicht. Was sollte ein Vorreiter mit einem Rotzlöffel anfangen, der in der Stadt groß geworden ist und gerade seinen Wandel hinter sich hat?« Tavians Bande verkaufte damals Taphtha, Löwenkralle und andere Suchtmittel an Kaufleute, die ihr Laster gern geheim halten wollten. Tavian brauchte einen Botenjungen, der beim Ausliefern auch an ungewöhnliche Orte schleichen und überdies den Mund halten konnte.
Für Jylla hatte er andere Verwendung gehabt. Die alte Wutregte sich in meinen Eingeweiden, obwohl Tavian seit sieben Jahren tot war.
»Aber wie hast du …?«
Mit Mühe verkniff ich mir eine fiese Abfuhr. Kiran konnte nichts dafür, dass die Erinnerungen für mich so bitter waren. »Du hast uns über Sethan reden hören, hm? Gut zwei Jahre nach meinem Wandel bin ich ihm zufällig auf der Straße begegnet.« Genauer gesagt, wollte ich ihn beklauen. Ich hatte damals die verrückte Idee, man müsse doch auch stehlen können, ohne behaftet zu sein. Ich wollte der beste Dieb Ninavels werden, und dann würde der Rote Dal mich zurücknehmen. Oh Mann, was für ein Idiot ich damals war.
Wenigstens war ich nicht so dumm, es als Taschendieb zu versuchen, denn ohne Behaftung war das zu gefährlich, wenn das Ziel Schutzamulette trug. Stattdessen verlegte ich mich darauf, bei gut besuchten Marktständen zu stehlen. Wenn der Händler durch ein Gespräch abgelenkt war, schnappte ich mir etwas von seiner Ware, rannte in eine Gasse und kletterte die Hauswand hoch aufs Dach. Die meisten Leute vergessen, nach oben zu sehen, und ich hatte damals keine Ahnung, dass es auch Erwachsene gibt, die klettern können.
Tja, und so geriet ich an Sethan. Ich wäre fast von der Dachkante gefallen, als er hinter mir die Wand hochlief. Es wurde eine Jagd über Mauern und Dächer. Schließlich schnappte er mich, als ich zu einem selbstmörderischen Sprung zu einer glatten Wand ansetzte, wo ein paar hundert Fuß unter mir ein gepflasterter Hof lag. Mir war klar, dass der Abstand zu groß war, aber der Rote Dal hatte mir eingetrichtert, dass man lieber sterben, als sich schnappen lassen sollte. Sethan bekam mich am Rucksackriemen zu fassen und riss mich noch zurück. Dabei hatte er selbst Mühe, nicht abzustürzen. Er zog mich aufs Dach, obwohl ich trat und biss, und schrie mich an, nicht weil ich gestohlen hatte, sondern weil ich mich fast umgebracht hätte.
»Wir kamen ins Gespräch«, erzählte ich Kiran. »Und er lud mich ein, mit ihm auf einen echten Felsen zu klettern.« Nachdem Sethan aufgehört hatte zu schreien, sagte er, ich könne ausgezeichnet klettern, und ich hörte ihm an, dass er es ehrlich meinte. Es war das erste Mal nach meinem Wandel, dass ich für etwas gelobt wurde.
»Es waren nur ein paar einfache Wände nahe der Juntar-Mine, aber schon auf halber Höhe wusste ich, dass ich
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