Die Chroniken von Waldsee Trilogie Gesamtausgabe: Dämonenblut Nachtfeuer Perlmond (German Edition)
Jahre alt, und seit siebenundsiebzig Jahren auf Wanderschaft. Trotzdem kenne ich noch kaum etwas von Waldsee. Ich glaube, das kann man nur, wenn man ein Titan oder ein Gott ist. Oder ein Vogel, der sich einmal darum herum wagt und unterwegs nicht gefressen wird oder an Hunger stirbt.«
Rowarn grinste stillvergnügt. Es war eine Wohltat, dem Alten zu lauschen. »Werdet Ihr mir eine Geschichte erzählen?«
»Bist du nicht schon ein bisschen zu alt dafür?«
»Bitte. Man sagte mir, ich solle mich erholen und entspannen. Wie könnte ich das besser als in Gegenwart eines Poeten? Noch dazu, wenn er so weit gereist ist wie Ihr?«
»Na schön.« Der Dichter ließ sich nicht lange bitten. »Aber ich werde dir keine Geschichte von mir erzählen. Diese hier ist älter als ich, schon über hundert Jahre.«
Rowarn setzte sich aufmerksam hin und sah den Poeten erwartungsvoll an.
»Mein Vater«, begann der alte Mann, »lebte einst in einem kleinen Land namens Readu. Kaum jemand kennt es, denn es liegt in einem Hochtal mitten in einem schroffen Gebirge, fern von Valia. Die Menschen dort waren arm, aber sie hatten ihr Auskommen und lebten in Frieden und nah an den Göttern. Mein Vater begann mit zwölf Jahren zu dichten und gelangte schnell zu Ruhm.«
»Ihr habt Euer Talent also von ihm geerbt«, meinte Rowarn.
»Möglich, mein junger Freund.«
Die Geschichte des Poeten
Als mein Vater zwanzig Jahre alt war, kam Hakkur nach Readu. Er stammte von einem Alten Volk ab und erhob Anspruch auf Land und Leute. Hakkur baute sich einen Palast und einen Thron und krönte sich selbst zum Tyrannen. Er war grausam und willkürlich, und alle zitterten vor ihm. Das Volk durfte nichts mehr besitzen, nicht einmal mehr seinen Glauben. Er nahm den Untertanen alles und gab nur das Notwendigste, damit das Volk arbeiten und ihm dienen konnte. Mein Vater sah sich das eine Weile an, und dann begann er, andere Weisen zu dichten. Er verteilte Pamphlete, schrieb Kampflieder und hielt flammende Reden auf Marktplätzen. Als Hakkur erkannte, dass das Volk sich wieder etwas angeeignet hatte, nämlich Glaube und Hoffnung an meinen Vater, und dass sich Widerstand regte, da ließ er ihn verhaften und verurteilte ihn zu öffentlicher Hinrichtung durch das Beil.
Das Volk sollte der Hinrichtung beiwohnen, und so viele wie möglich wurden zusammengetrieben. Als mein Vater oben auf dem Schafott stand, kurz bevor der Henker seinen Kopf auf den Klotz zwingen konnte, erbat er von Hakkur, dem gütigen und gerechten Herrscher, noch den Gefallen ein paar letzter Worte. Das konnte der Tyrann ihm schlecht verwehren, denn selbst in diesem Land hatten Verurteilte ein Anrecht auf Abschied. Und als er sah, wie meinem Vater die Knie vor Angst schlotterten, glaubte er, der Verurteilte würde niedersinken und um Gnade betteln. So gab er der Bitte großzügig statt. Mein Vater, die Arme auf den Rücken gefesselt, stellte sich aufrecht hin und sagte:
Das Schwert kann einen Mann vernichten
Nicht aber seine Feder.
Selbst wenn die scharfe Klinge sie zerteilt
Bleibt es immer noch eine Feder.
Dann ging er freiwillig auf die Knie und legte den Kopf auf den Klotz, und der Henker hob das Beil. Da aber bemerkte der Tyrann die eisige Stille, die plötzlich herrschte, und er blickte in die zürnenden Augen des Volkes, und wie er dies alles sah und erkannte ...
»Was geschah? So erzählt doch weiter!«
»Mein Vater starb unter dem Beil, und ich wurde nie geboren.«
Rowarn stockte der Atem, und er starrte dem Dichter ins faltenreiche Antlitz. Als er sah, wie dessen Mundwinkel zuckten, prustete er los. »Ihr seid ein Schelm, kein Dichter!«
»So hat mein Vater es mir erzählt«, lachte der Alte. »Er erklärte dazu, dies sei das erste Gebot des Handwerks.« Unvermittelt wurde er wieder ernst. »Nun höre, was wirklich geschah. Im letzten Moment, als der Henker gerade zuschlagen wollte, gebot Hakkur ihm Einhalt. Dann begnadigte er meinen Vater. Der hat das aber nicht mehr mitbekommen, denn zu dem Zeitpunkt war er bereits vor Schreck ohnmächtig geworden.«
Rowarn wartete ungeduldig in der neuerlichen Pause, gab aber keinen Ton von sich.
»Mein Vater kam in der Dunkelheit in der Gosse wieder zu sich. Es regnete in Strömen, und er fror entsetzlich. Er war nackt, sie hatten ihn grün und blau geschlagen und ihm die Finger gebrochen, jeden einzelnen. Sie hatten ihm alles weggenommen, nur seine Haut ließen sie ihm.«
»Wie grausam ...« Rowarn schüttelte es.
»Mein Vater
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