Die Chroniken von Waldsee Trilogie Gesamtausgabe: Dämonenblut Nachtfeuer Perlmond (German Edition)
weinte und klagte die ganze Nacht. Am Morgen hörte der Regen auf, die Wolken verzogen sich, und die Sonne erschien am klaren Himmel. Und mein Vater stand auf und ging.«
Der Tonfall ließ darauf schließen, dass die Geschichte beendet war. Rowarn blinzelte verblüfft. »Er ging?«
»Ja. Und das Volk sah ihn gehen. Und bald folgte ihm der Erste. Der Zweite. Schließlich alle. Sie ließen alles liegen und stehen, nahmen nichts mit, nicht einmal die paar Fetzen Kleidung auf dem Leib, denn der Tyrann hatte ihnen ja gesagt, dass ihnen nichts gehören würde, und sie wollten nicht als Diebe gehen, sondern als freie Menschen. Genauso wie mein Vater. Wie ein Lauffeuer sprach es sich herum, und von allen Seiten strömten sie herbei und auf der Hauptstraße von Readu zusammen, die aus dem Gebirge führte. Hakkur hatte zweihundert Soldaten, aber das Volk war zwanzigfach in der Mehrzahl, und alle waren nackt und unschuldig wie am Tag ihrer Geburt. Die Soldaten konnten nichts tun. Und am Ende ließen auch sie alles zurück und gingen mit den anderen.«
Rowarn schluckte trocken. »Und ... was wurde aus dem Tyrannen?«
»Er herrscht immer noch über Readu«, antwortete der Poet. »Ein einsamer Herrscher in einem menschenleeren Land. Hin und wieder verirren sich Reisende dorthin, Abenteurer, Barden und Poeten. Manchmal bewirtet er sie, manchmal köpft er sie. Doch am Ende ist es immer dasselbe: Niemand bleibt, und so ist er am Ende einsam wie zuvor.«
»Warum bleibt er?«
»Readu gehört ihm. Wenn er geht, gehört ihm nichts mehr.«
»Also hat er Angst.«
»Gewiss. Wer keine Angst hat, braucht anderen keine einzujagen.«
Eine Weile schwiegen sie, und Rowarn dachte über die Erzählung nach. Einerlei, ob der Poet geflunkert hatte, dass sein Vater der Held gewesen war: Es war eine gute Geschichte. Eine, wie sie auch Schneemond und Schattenläufer hätten erzählen können. Ihm einst als Kind erzählt hatten.
»Ihr seid ein weiser Mann«, meinte Rowarn bewundernd.
»Nicht halb so weise, wie du es verdienst«, erwiderte der Poet. »Aber nun wollen wir keinen tiefgründigen Gedanken nachhängen, an diesem schönen Nachmittag. Jedoch einen Vers musst du mir noch gestatten, bevor du mich verlässt. Du bist ein guter Zuhörer, und ich höre mich gemäß meiner Berufung nun einmal gern reden.«
»Ich bin gespannt, verehrter Poet«, sagte Rowarn neugierig.
Der Kranich breitet die Flügel aus
Doch das Gras ist höher.
»Ich muss zugeben, ich verstehe nichts von dem, was Ihr sagt«, gestand Rowarn fröhlich. »Aber ich finde, es klingt wunderbar.«
»Es ist doch ganz einfach«, sagte der Poet. »Der Kranich kann sich strecken, doch nicht mehr wachsen. Nun?«
Rowarn lachte. »Soll ich es auch mal probieren?«
»Nur zu«, forderte der Poet ihn auf.
Wenn mein Kater faucht
Weiß ich, mir droht Gefahr
Wenn der Häher anschlägt
Weiß ich, der Beute droht Gefahr
Wenn mein Magen knurrt ...
»Genug!«, rief der Dichter und hob kichernd die Hand. »Bevor du mich verspeist, geh essen! Und sieh zu, dass du immer satt bist, damit du nie wieder in Versuchung kommst zu dichten!« Er lachte fast Tränen.
»Verzeiht, ich bin unhöflich«, lächelte Rowarn. Er freute sich, dass er dem Alten Vergnügen bereitete. »Doch ich kann es wirklich kaum mehr aushalten. Werden wir uns wiedersehen?«
»Aber natürlich. Ich bleibe für immer hier«, sagte der Poet sanft und wies vor sich auf einen Baumfarn am Ende des Weges, kurz bevor der Wald begann. Der schmale, kerzengerade Stamm war völlig glatt. Erst der Wipfel wurde von einem weit auseinanderstrebenden Schopf feingefiederter, mannslanger Blätter gekrönt. Ein königlicher Ruheplatz.
Unter weiten Flügeln
Lege ich mich zur Ruhe
Und spüre das weiche Moos
Über den Wolken.
»In wenigen Tagen schon«, fügte der alte Mann hinzu.
»Das tut mir leid«, sagte Rowarn betroffen.
»Aber nein«, widersprach der Poet. »Es könnte nicht friedvoller sein, und ich habe alles getan, geschrieben und gesagt. Nun ziehe ich mich in mich selbst zurück und sammle alles auf einen einzigen Punkt, der nicht größer ist als der Kopf einer Stecknadel. Dies werde ich dann an die Feder eines Vogels heften und mit ihm über die Welt fliegen, bis an die fernen Gestade, die man die Silbernen nennt. Was kann es Besseres geben, sag selbst? Das ist wahre Unsterblichkeit, mein junger Freund.« Er reichte Rowarn die Hand zum Abschied.
Vier Pfade
Musst du noch beschreiten,
Und ich beneide dich
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