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Die Chronolithen

Die Chronolithen

Titel: Die Chronolithen Kostenlos Bücher Online Lesen
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angeblich eine Tugend sein, und Gleichmut heißt, sich beharrlich weigern, vor einer schrecklichen Wahrheit zu kapitulieren. Neulich war ich ausgesprochen gleichmütig gewesen. Doch ich wechselte die Spur, um einen Tankzug zu überholen, und von hinten fuhr ein kleiner gelber Leica-Lieferwagen auf, und der Tankzug begann aus der seinen in meine Fahrspur zu rücken. Der Fahrer musste seine Annäherungsprotokolle abgeschaltet haben, eine höchst illegale, aber bei selbstständigen Truckern nicht unübliche Maßnahme. Ich befand mich in seinem toten Winkel, und der Leica weigerte sich zu bremsen. Für gute fünf Sekunden hatte ich die schreckliche Vision, hinter meiner Lenksäule zum Pfannekuchen zu werden.
    Dann entdeckte mich der Trucker im Seitenspiegel, zog nach rechts und ließ mich vorbei.
    Der Leica überholte, als sei nichts geschehen.
    Und ich hockte in kalten Schweiß gebadet hinter dem Steuer – nicht angeschnallt, von allen guten Geistern verlassen und flog auf einer grauen Straße zwischen Vergessenheit und Vergessen dahin.
     
    Eine Woche später gab es eine gute Nachricht: Janice rief an, um mir zu sagen, das Kait ein neues Ohr bekam.
    »Sie wird wieder richtig hören, Scott, das heißt, wenn sie mit einem normalen Gehör zur Welt kam und noch die ganzen Nervenbahnen hat. Sie bekommt eine sogenannte Mastoid-Cochlear-Prothese.«
    »Und so was kann man?«
    »Die Methode ist relativ neu, aber bei Patienten mit Kaits Krankengeschichte ist die Erfolgsquote fast hundert Prozent.«
    »Ist es gefährlich?«
    »Nicht besonders. Aber es ist ein größerer Eingriff. Sie muss mindestens für eine Woche ins Krankenhaus.«
    »Wann?«
    »Heute in sechs Monaten.«
    »Kostenpunkt?«
    »Whit ist versichert. Die Genossenschaft ist bereit, einen gewissen Anteil zu übernehmen. Meine Versicherung kann auch beispringen, und Whit ist darauf vorbereitet, den Rest aus eigener Tasche zu zahlen. Vielleicht muss er eine zweite Hypothek aufnehmen. Aber es bedeutet auch, dass Kaitlin eine normale Kindheit haben wird.«
    »Lass mich beisteuern.«
    »Ich weiß, dass du zur Zeit nicht gerade wohlhabend bist, Scott.«
    »Ich habe Geld auf der Bank.«
    »Und ich danke dir für das Angebot. Aber… ehrlich gesagt, Whit fühlt sich wohler, wenn er das regelt.«
    Kait hatte den Gehörverlust gut kompensiert. Wer nicht merkte, wie sie den Kopf neigte oder die Stirn runzelte, wenn die Unterhaltung leise wurde, kam nicht auf die Idee, sie könne Hörprobleme haben. Trotzdem war sie gezeichnet, insofern sie dazu verurteilt war, in der Klasse ganz vorne zu sitzen, wo sich zu viele Lehrer mit übertriebener Aussprache an sie wandten und so taten, als sei ihre Behinderung eine geistige. Wenn sie auf dem Schulhof mit anderen spielte, war sie unbeholfen, zu leicht von hinten zu überraschen. Das und eine natürliche Schüchternheit waren schuld, dass sie ein bisschen zu viel im Netz surfte, ein bisschen zu egozentrisch und gelegentlich auch arrogant war.
    Doch das würde sich ändern. Der Schaden würde, wie es aussah, dank jüngster Fortschritte in der Biochemotechnik behoben werden. Auch dank Whitman Delahunt. Und wenn diese Intervention zugunsten meiner Tochter ein bisschen aufs Ego drückte… na ja, dachte ich, zum Teufel mit dem Ego.
    Kaitlin würde wieder heil sein. Das allein zählte.
    »Aber ich möchte mich beteiligen, Janice. Das bin ich Kaitlin schuldig und nicht erst seit gestern.«
    »Ach was, Scott. Das mit dem Ohr war nicht deine Schuld.«
    »Ich möchte helfen.«
    »Tja… wenn du darauf bestehst, Whit wird sicher nicht nein sagen.«
    Die letzten fünf Jahre waren fünf fette Jahre gewesen. Ich übernahm die Hälfte der OP-Kosten.
     
    »Na dann, Scotty«, sagte Sue Chopra, »bist du reisefertig?«
    Ich hatte ihr von Kaitlins Operation erzählt und sagte ihr, dass ich bei Kaits Genesung dabei sein wolle – ohne wenn und aber.
    »Das ist noch ein halbes Jahr hin«, sagte Sue. »Dann sind wir längst wieder zurück.«
    Kryptisch. Doch schließlich schien sie bereit, zu erläutern, was sie neulich schon angedeutet hatte.
    Wir saßen in der geräumigen, aber weitgehend verwaisten Cafeteria, zu viert am einzigen Fenster mit Blick auf die Schnellstraße. Ich, Sue, Morris Torrance und ein junger Mann namens Raymond Mosely.
    Ray Mosely war ein postgraduierter Physiker vom MIT, der mit Sue an der naturwissenschaftlichen Bestandsaufnahme arbeitete. Er war fünfundzwanzig, schmerbäuchig, ungepflegt und strahlte wie ein neues Zehncentstück.

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