Die Chronolithen
sorgen.«
»Wohin geht also die Reise?«
»Nach Jerusalem«, sagte Sue.
Ich bekam vierundzwanzig Stunden für meinen geordneten Rückzug aus dem Büro samt Packen eingeräumt.
Stattdessen setzte ich mich ans Steuer.
SIEBEN
Ich war zehn Jahre alt. Als ich eines Tages von der Schule nach Hause kam, war Mutter dabei, die Küche zu schrubben. Daran war nichts Ungewöhnliches. Aber dann tat ich etwas, das ich seit einiger Zeit häufiger tat: Ich beobachtete sie.
Meine Mutter war keine schöne Frau. Das habe ich wohl damals schon gewusst. (Oder besser »geahnt«.) Sie hatte ein hartes, schmales Gesicht und lächelte nur selten – was ihr Lächeln zu einem denkwürdigen Ereignis machte. Wenn sie gelächelt hatte, lag ich abends im Bett und durchlebte das Ereignis ein ums andere Mal. Sie war damals erst fünfunddreißig. Sie trug nie Make-up und konnte sich an manchen Tagen nicht einmal aufraffen, ihr Haar zu bürsten. Gott sei Dank war es dunkel und glänzte von Natur aus.
Kleider zu kaufen, war ihr verhasst. Sie trug alles, was sie hatte, bis es buchstäblich untragbar war. Manchmal, wenn sie mit mir einkaufen ging, schämte ich mich wegen ihres blauen Pullovers mit dem kleinen braun verschmorten Loch in der Seite, durch das ich den Träger ihres BHs sehen konnte; oder wegen der gelben Bluse mit dem Bleichfleck auf der rechten Schulter, der an eine Karte von Kalifornien erinnerte.
Sagte ich ihr das, starrte sie mich wortlos an, ging ins Haus zurück und zog sich um, was kaum einen Unterschied machte. Aber ich hasste es, so etwas zu sagen, weil ich mir dabei pingelig und weibisch vorkam, wie ein kleiner Junge, der sich nicht schmutzig machen will. Dem war aber nicht so. Ich wollte einfach nicht, dass man zwischen den Regalen im Supermarkt nach ihr schielte.
Als ich an diesem Tag heimkam, trug sie Bluejeans und eins von Vaters Hemden, das ihr viel zu groß war. Sie steckte bis zu den Ellbogen in gelben Gummihandschuhen, die – wie mir entging – eine Reihe tiefer blutender Schrammen verbargen. Das war ihr Putzdress. Und wie sie geputzt hatte. Die Küche stank nach Lysol und Salmiakgeist und einem halben Dutzend anderer Reiniger und Desinfektionsmittel, die sie im Schränkchen unter der Spüle hortete. Ihr Haar unter dem roten Kopftuch war zurückgebunden und ihre ganze Aufmerksamkeit galt den Bodenfliesen. Sie nahm mich erst wahr, als ich meine Butterbrotdose auf die Anrichte knallte.
»Bleib aus der Küche«, sagte sie tonlos. »Das hab ich dir zu verdanken.«
»Mir zu verdanken?«
»Er ist dein Hund, oder etwa nicht?«
Sie redete von Chuffy, unserem Springerspaniel, und ich begann mir Sorgen zu machen – mehr wegen des Tonfalls, nicht so sehr wegen der Worte.
In dem Tonfall sagte sie manchmal Gute Nacht. Jeden Abend kam sie in mein Zimmer, beugte sich über mein Bett, richtete Laken und Steppdecke, küsste ihre Fingerspitzen und berührte damit meine Stirn. Und zu neunzig Prozent tat das genauso gut, wie es klingt. Doch an manchen Abenden – Abenden, an denen sie vielleicht schon ein bisschen getrunken hatte –, da dräute sie über mir mit einem unbändigen Geruch nach Schweiß und Alkohol, einem Geruch, den sie abstrahlte wie ein Kohleherd die Wärme, und obwohl sie dieselben Worte sagte, dasselbe »Gute Nacht, Scotty, schlaf gut«, klang es wie auswendig gelernt und ihre Fingerspitzen fühlten sich kalt und rau an. An solchen Abenden zog ich mir das Bettzeug über den Kopf und zählte die Sekunden (einundzwanzig, zweiundzwanzig), bis ihre Schritte auf dem Flur verstummt waren.
Jetzt klang sie genauso. Ihre Augen waren zu rund und der Mund war zu einem Strich gepresst und ich hatte das Gefühl, nur näher herangehen zu müssen, um denselben widerlichen Gestank wahrzunehmen, den ein Strand bei Ebbe verströmt.
Sie putzte weiter, und ich schlich mich ins Wohnzimmer, machte den Fernseher an und glotzte in die syndizierte Neuauflage von Seinfeld, bis mich Mutters Bemerkung über Chuffy wieder einholte. [xviii]
Mutter hatte Chuffy nie gemocht. Sie tolerierte ihn, doch Chuffy gehörte meinem Vater und mir, nicht ihr. Vielleicht hatte Chuffy auf den Küchenboden gepinkelt. Hätte das nicht ihre Reaktion erklärt? Wo steckte Chuffy eigentlich? Normalerweise saß er um diese Zeit auf dem Sofa und erwartete, dass man ihm die Ohren kraulte. Ich rief nach ihm.
»Das Tier ist ekelhaft«, sagte meine Mutter aus der Küche. »Lass es, wo es ist.«
Ich fand Chuffy oben, eingesperrt in der
Weitere Kostenlose Bücher