Die Chronolithen
Und er war schüchtern. Er war mir wochenlang aus dem Weg gegangen, wohl weil ich ein fremdes Gesicht war, und begann eben erst zu kapieren, dass ich mich nicht zwischen ihn und Sue Chopra drängen wollte.
Sue war immerhin ein Dutzend Jahre älter als er und ihre sexuelle Vorliebe galt nun einmal nicht unsereinem, schon gar nicht zaghaften jungen Physikern, die eine längere Unterhaltung über Wechselwirkungen zwischen Myonen für eine Aufforderung zu sexuellen Intimitäten hielten. Sue hatte ihm das wiederholt erklärt. Und Ray, sollte man meinen, hatte diese Erklärungen auch akzeptiert. Doch er schickte ihr nach wie vor verträumte Blicke über den klebrigen Tisch und beugte sich Sues Meinungen mit der Loyalität des Verliebten.
»Erstaunlich ist«, begann Sue, »was uns die Chronolithen seit Chumphon alles nicht verraten haben.
Ein bisschen beschreiben können wir sie, mehr nicht. Wir wissen zum Beispiel, dass man ein Kuin-Monument auch dann nicht ins Wanken bringen kann, wenn man sein Fundament freilegt, denn es verharrt in ein und demselben Abstand vom Gravitationszentrum der Erde und auch sonst in ein und derselben Lage, selbst wenn das bedeutet, dass es – ja – schwebt. Wir wissen, dass ein Kuin-Monument außergewöhnlich reaktionsträge ist; wir wissen, dass es einen bestimmten Brechungsindex hat; aus Untersuchungen wissen wir, dass die Objekte eher modelliert als herausgemeißelt sind, und so weiter und so fort. Aber nichts von alledem hat mit einem richtigen Verständnis zu tun. Wir verstehen diese Objekte so, wie ein mittelalterlicher Theologe ein Auto verstanden hätte. Das Objekt ist schwer, die Polsterung wird bei direkter Sonnenbestrahlung heiß, bestimmte Teile sind scharfkantig, bestimmte schön glatt und fließend. Manche Details sind vielleicht wichtig, die meisten sicher nicht; aber bewerten lassen sie sich nur mit Hilfe einer umfassenden Theorie. Und genau die fehlt uns.«
Der Rest von uns nickte verständig, wie wir es gewöhnlich taten, wenn Sue sich anschickte, eine These zu entwickeln.
»Aber manche Details sind interessanter als andere«, fuhr sie fort. »Zum Beispiel: Wir haben hinreichende Beweise, dass es in den Wochen vor dem Erscheinen eines Chronolithen zu einem allmählichen, schrittweisen Anstieg der örtlichen Strahlenbelastung kommt. Nicht gefährlich, aber eindeutig messbar. Ein Punkt, mit dem die Chinesen beschäftigt waren, als sie sich aus der Kooperation mit uns verabschiedeten. Auch die Japaner hatten einen Glückstreffer. Rings um die Fusionsreaktoren von Sapporo/Technics unterhalten sie routinemäßig ein Netz aus Strahlungssensoren. Tage, bevor der Chronolith auftauchte, versuchte Tokio die Quelle der ganzen Streustrahlung zu orten. Beim Auftauchen des Chronolithen waren die Messwerte am höchsten, danach fielen sie ganz rasch auf die normalen regionalen Werte zurück.«
»Was bedeutet«, sagte Ray Mosely, als sorge er sich um die Dummen am Tisch, »dass wir das Erscheinen eines Chronolithen zwar nicht verhindern, aber mit einer gewissen Sicherheit voraussagen können.«
»Um die Menschen zu warnen«, sagte Sue.
»Klingt vielversprechend«, sagte ich. »Wenn ich weiß, wo ich suchen muss.«
»Ja«, gab Sue zu, »da liegt der Hase im Pfeffer. An vielen Stellen wird aber die Strahlenbelastung der Luft überwacht. Und Washington hat mit einer ganzen Reihe befreundeter Staaten die Überwachung größerer Ballungsgebiete organisiert. Für den Zivilschutz heißt das, wir können die Menschen rechtzeitig evakuieren.«
»Während wir«, setzte Ray hinzu, »daran interessiert sind, vor Ort zu sein.«
Sue bedachte ihn mit einem scharfen Blick, als habe er ihr die Pointe verhagelt. Ich sagte: »Ist das nicht ein bisschen riskant?«
»Um das Ereignis aufzuzeichnen, um an die exakten Daten der finalen Eruption zu kommen, um den eigentlichen Prozess zu sehen… wäre das von unschätzbarem Wert.«
»Hoffentlich aus einer gewissen Entfernung«, warf Morris Torrance ein.
»Wir können jede Gefahr für Leib und Leben minimieren.«
Ich sagte: »Und das passiert schon bald?«
»Wir brechen in ein, zwei Tagen auf, Scotty, und das bringt uns in Zeitdruck. Das kommt alles ein bisschen plötzlich, ich weiß. Aber unsere Vorposten sind bereits eingerichtet und wir haben Spezialisten vor Ort. Die Messdaten legen nahe, dass es in gerade mal fünfzehn Tagen zu einer gewaltigen Manifestation kommt. Die bevorstehende Evakuierung müsste heute Abend noch für Schlagzeilen
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