Die Chronolithen
Verehrung, die Anbetung der Chronolithen. Für die Hadschisten war jeder Chronolith ein Heiligtum. Hadschisten schrieben diesen Monolithen allerhand Wunderdinge zu: Erleuchtung, Heilungen, seelische Wandlungen und Epiphanien unterschiedlichen Grades. Aber anders als etwa die Menschen, die nach Lourdes pilgerten, waren die Hadschisten fast ausnahmslos blutjung. Es war eine »Jugendbewegung« (ein Begriff, den das 20. Jahrhundert geprägt hatte). Wie die meisten Bewegungen dieser Art bestand sie zur Hälfte aus Habitus. Nur ganz wenige Amerikaner pilgerten wirklich zu einem Chronolithen, doch Teenager mit einem Kuin-Logo waren keine Seltenheit – meistens das verbreitete »K+« im roten oder orangefarbenen Kreis. (Oder eines von den subtileren, vermutlich geheimen Zeichen: Narben an Brustwarzen oder Ohrläppchen, silberner Fußreif, weißes Stirnband.)
In Ashlees Viertel war das »K+« allgegenwärtig, es war mit Kreide oder Farbe an Wände und auf Gehsteige gekritzelt oder gesprayt. Ich hielt zur verabredeten Zeit neben dem chinesischen Restaurant und Ashlee huschte aus der Haustür und auf den Beifahrersitz. »Gut, dass Sie ein billiges Auto fahren«, sagte sie. »Ich will nicht auffallen.«
»Wohin fahren wir?«
Sie gab mir eine Adresse fünf Häuserblocks stadteinwärts, wo es nur noch Lagerhäuser, Fastfood zum Mitnehmen und Spirituosenläden gab.
»Der Bursche«, sagte Ashlee unvermittelt, »heißt Cheever Cox und hat die Finger in so ziemlich allen Geschäften, die man in keine Steuererklärung schreiben darf. Ich kenne ihn, weil er mir immer Tabak verkauft hat.« Sie sagte es ohne jede Auffälligkeit in der Stimme, vergewisserte sich aber flüchtig, was ich wohl für ein Gesicht machte. »Ich meine, bevor ich die Sucht attestiert bekam.«
»Was weiß er über Kait und Adam?«
»Vielleicht gar nichts, aber als ich ihn gestern anrief, da erwähnte er einen Billighadsch und ein neues Gerücht über Kuin und dass das nichts für eine unverschlüsselte Leitung sei. Cheever ist darin ziemlich paranoid.«
»Und, ist was dran? Was meinen Sie?«
»Wo bin ich mit Ihnen dran? Weiß man’s?«
Sie fuhr das Fenster herunter, zündete sich eine Zigarette an und wartete fast trotzig auf meine Reaktion. Minnesota hatte mit die strengsten Tabakgesetze in den Staaten. Doch ich war aus einem anderen Bundesstaat und alt genug, um nicht schockiert zu sein. Ich sagte: »Ashlee? Schon mal ans Aufhören gedacht?«
»Oh – bitte!«
»Ich will Sie nicht maßregeln, ich mache lediglich Konversation.«
»Und ich rede höchst ungern darüber.« Sie blies geräuschvoll den Rauch aus dem Fenster. »Da war nicht sehr viel, was mich in den letzten paar Jahren zusammengehalten hat, Mr. Warden.«
»Scott.«
»Dann eben Scott. Nicht, dass ich zu schwach wäre. Aber… haben Sie jemals geraucht?«
»Nein.« Mir waren die Anti-Sucht-Impfungen erspart geblieben, die man damals den jungen Leuten aufgedrängt hatte, vor allem das Folgerisiko eines späteren Immunproblems; Tabak war einfach nicht mein Ding gewesen.
»Wahrscheinlich bringt es mich um, aber was hab ich denn anderes?« Sie schien nach einem Gedanken zu suchen, gab es dann aber auf. »Die Zigarette beruhigt.«
»Ich verurteile Sie nicht. Eigentlich mag ich den Geruch von brennendem Tabak. Aus der Entfernung zumindest.«
Sie zog ein halbes Lächeln. »Aha. Sie sind mir vielleicht ein Degenerierter.«
»Vermissen Sie Kalifornien?«
»Vermisse ich Kalifornien?« Sie rollte mit den Augen. »Ist das eine richtige Unterhaltung oder sind Sie bloß nervös wegen Cheever? Das brauchen Sie nicht. Er ist ein bisschen zwielichtig, aber kein schlechter Mensch.«
»Das ist beruhigend«, sagte ich.
»Sie werden sehen.«
Die Adresse war ein baufälliges Fachwerkhaus, eine Doppelhaushälfte. Die Verandabeleuchtung brannte nicht, vermutlich ein Dauerzustand. Die Stufen bogen sich durch. Ashlee öffnete das rostige Fliegengitter und pochte an die Tür.
Cheever Cox schloss auf, als Ashlee sich zu erkennen gab. Er war kahl, Mitte dreißig, trug Levis und ein blassblaues Hemd mit tomatenroten Spritzern auf der Kragenspitze. »Heh, Ashlee«, begrüßte er sie und drückte sie an sich. Mich bedachte er mit einem kurzen Blick.
Ashlee stellte mich vor und sagte zu Cox: »Wir haben telefoniert, du weißt schon.«
Im Wohnzimmer standen ein verblasstes Sofa, zwei hölzerne Klappstühle und ein Couchtisch mit Aschenbecher. Hinten im schummrigen Flur konnte ich die Ecke einer Küche sehen.
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