Die Chronolithen
Verkäufer ab, in der Hoffnung, Hunger würde die Pilgerscharen zerstreuen.
Ashlee starrte mit unübersehbarer Verzweiflung auf dieses staubgebleichte Mekka. »Selbst wenn sie tatsächlich hier sind«, sagte sie, »wie sollen wir sie finden?«
»Lasst mich mal machen«, sagte Hitch. »Das braucht ein bisschen Feldarbeit. Aber erst müssen wir mal da sein.«
Wir fuhren über Stock und Stein und erreichten schließlich eine rissige Teerdecke. Der Gestank des Hadsch drang mit dem Taktgefühl einer geballten Faust in den Van und Ashlee zündete sich eine Zigarette an, nicht zuletzt, um diesen Duft zu übertünchen.
Hitch parkte uns hinter einem rußigen Lehmziegelschuppen, etwa eine halbe Meile vor Portillo. Eine Gruppe verdorrter Jacarandas und ein paar Stapel kotverkrusteter Hühnerställe verbargen uns vor der Hauptstraße.
Nach dem Grenzübertritt hatte Hitch Waffen besorgt und bestand nun darauf, mich und Ashlee damit vertraut zu machen. Nicht, dass wir uns gesträubt hätten. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch keine Waffe abgefeuert – ich war in einer waffenscheuen Dekade aufgewachsen und brachte einen wohlbegründeten Abscheu vor Handfeuerwaffen mit. Ich bekam also eine Pistole mit vollem Magazin und Hitch vergewisserte sich, dass ich sie entsichern und so halten konnte, dass mein Handgelenk den Rückschlag schadlos überstehen würde.
Hitch wollte, dass Ashlee und ich beim Van blieben und denselben samt Proviant und Wasser bewachten, derweil er selbst in die Höhle des Löwen ging, um Adams Hadsch-Gruppe ausfindig zu machen und ein Treffen auszuhandeln. Ashlee dagegen wollte ohne Umschweife in den Ort – und ich verstand ihre Not –, doch Hitch blieb hart. Der Van war unverzichtbar und musste bewacht werden; ohne das Fahrzeug waren wir ein leeres Versprechen für die Kids.
Hitch steckte seine Waffe ein und marschierte los. Ich sah zu, wie die Dämmerung ihn verschluckte. Dann sperrte ich die Wagentüren zu und ging zu Ashlee nach vorne, wo es eine Mahlzeit aus Müsliriegel und Apfel gab, dazu lauwarmen Instantkaffee aus der Thermosflasche. Wir aßen schweigend, während der Himmel eindunkelte. Die Sterne kamen hervor, hell und scharf, trotz der verstaubten Windschutzscheibe und des Rauchschleiers, der von den nächtlichen Feuern rührte.
Ashlee legte den Kopf an meine Schulter. Seit wir Mexiko betreten hatten, hatten wir nicht mehr geduscht, und das machte sich bemerkbar, war aber unerheblich. Es war die Wärme, die zählte, die Berührung. Ich sagte: »Wir müssen abwechselnd schlafen.«
»Meinst du, es war so gefährlich hier?«
»Und ob.«
»Ich glaube nicht, dass ich schlafen kann.«
Als sie das sagte, unterdrückte sie ein Gähnen.
»Krabbel nach hinten«, sagte ich. »Deck dich mit der Decke zu und versuch zu schlafen.«
Sie nickte und streckte sich auf einer der hinteren Sitzbänke aus. Während sich die Hitze des Tages verlor, saß ich am Steuer, die Pistole griffbereit, und kam mir einsam, nutzlos und albern vor.
Selbst aus dieser Entfernung waren die nächtlichen Geräusche von Portillo zu hören. Im Grunde ein einziges Geräusch, ein weißes Rauschen aus menschlichen Stimmen, digitaler Musik, prasselndem Feuer, Lachen und Schreien. Das, ging es mir durch den Kopf, war der tausendjährige Wahnsinn, dem wir mit der Jahrhundertwende entkommen waren, Hunderte von Hadschisten, die Kapital aus dem moralischen Freibrief eines verbürgten Weltendes schlugen. Erlöser oder Zerstörer, Kuin gehörte das Morgen und Übermorgen, ihm gehörten alle Morgen, zumindest in den Augen der Hadschisten. Und zumindest jetzt, bei dieser Gelegenheit, würde er sie nicht enttäuschen: Der Chronolith würde wie angekündigt kommen; Kuin würde seine Siegessäule in nordamerikanischen Boden pflanzen. Von eben diesen Hadschisten würden vermutlich viele durch den Kälteschock oder die Erschütterung ums Leben kommen, und so sie es wussten, und das taten sie höchstwahrscheinlich, gaben sie nichts drum. Es war eine Lotterie. Großer Preis, großes Risiko. Kuin würde die Getreuen belohnen… zumindest die unter ihnen, die danach noch lebten.
Ich fragte mich unwillkürlich, wie viel von diesem Irrsinn Kait verinnerlicht hatte. Kaitlin hatte Phantasie, und sie war ein Einzelkind. Phantasievoll und naiv: keine gute Mischung, nicht in dieser Welt.
Setzte Kait wirklich auf Kuin? Auf einen Kuin, wie sie ihn aus ihrer eigenen Sehnsucht und Unsicherheit heraufbeschworen hatte? Oder war das alles nur ein
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