Die Chronolithen
war nervös, der Finger am Abzug zuckte, und der Schuss löste sich.
Ich hätte die Waffe beinah fallenlassen. Ich weiß nicht, wo der Schuss hinging… er traf jedenfalls keinen Menschen. Aber er hatte den beiden einen gehörigen Schrecken eingejagt. Geblendet vom Mündungsfeuer, ließ ich dennoch die verhinderten Vergewaltiger, die zu ihrem Wagen rannten, nicht aus dem Auge. Ich spielte mit dem Gedanken, noch einmal abzudrücken, verwarf ihn aber rasch, nur um das Schießeisen nicht wieder zu provozieren. (Später klärte Hitch mich darüber auf, dass die Waffe auf niedrigen Abzugswiderstand getrimmt und früher vermutlich für kriminelle Zwecke benutzt worden war.)
Die beiden schwangen sich mit affenartiger Gewandtheit ins Auto. Hätten sie dort Waffen gehabt, hätte ich in Schwierigkeiten kommen können – was mir reichlich spät einfiel –, aber entweder hatten sie keine oder sie benutzten sie nicht. Der Wagen erwachte zum Leben und machte einen Satz in Richtung Portillo, wobei die gestapelten Hühnerställe einen Hagel von Kies abbekamen.
Blieb noch das Mädchen.
Ich drehte mich um, die Mündung der Waffe wohlweislich steil nach unten gerichtet. Das rechte Handgelenk schmerzte noch vom Rückschlag.
Das Mädchen war in der grellen Lichtflut aufgestanden und dabei, ihre zerrissene Levis zuzuknöpfen. Sie sah mich mit einem Ausdruck an, den ich nicht ganz ergründen konnte – ich glaube, sie hatte Angst und schämte sich. Sie war jung. Das Gesicht war tränenverschmiert. Sie war so dünn, dass sie fast magersüchtig wirkte; über die linke Brust zog sich eine lange, verkrustete Schramme.
Ich räusperte mich und sagte: »Sie sind weg – du hast jetzt nichts mehr zu befürchten.«
Vielleicht sprach sie kein Englisch. Wahrscheinlicher war, dass sie mir nicht glaubte. Sie drehte sich um und floh ins hohe Gras längs der Straße wie ein verschrecktes Tier.
Ich machte ein paar Schritte, folgte ihr aber nicht. Die Nacht war zu finster und ich wollte Ashlee nicht allein lassen.
Ich wünschte der Kleinen alles Gute, hatte aber meine Zweifel, ob es half.
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Ich setzte mich nach vorne zu Ashlee. Wir waren hellwach und vollgepumpt mit Adrenalin. Ash steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie mit einem winzigen Gasfeuerzeug an. Wir redeten nicht über das, was wir gesehen hatten, doch wenig später, als im Osten das erste Blau dämmerte, sagte Ashlee: »Du darfst sie nicht danach fragen. Kaitlin, meine ich.«
»Wonach?«
Eine dumme Frage.
»Wahrscheinlich brauchst du diesen Rat gar nicht. Nicht, dass ich eine vorbildliche Mutter wäre. Aber wenn du Kaitlin zurück hast, dann frag sie nicht aus. Vielleicht redet sie mit dir, vielleicht nicht, lass sie selbst entscheiden.«
Ich sagte: »Wenn sie Hilfe braucht…«
»Wenn sie Hilfe braucht, wird sie dich darum bitten.«
Ich beließ es dabei. Ich wollte nicht darüber spekulieren, was Kait vielleicht widerfahren oder nicht widerfahren war. Ashlee hatte gesagt, was sie sagen wollte, und sah wieder aus dem Fenster. Was hatte sie bewogen, mir diesen Rat zu geben? Etwas, das sie selbst einmal erlitten und die ganze Zeit für sich behalten hatte?
Wir dösten, während die Sonne sich anschickte, die Welt zu erwärmen. Schließlich klopfte Hitch an die Scheibe und scheuchte uns aus dem Schlaf. Ashlee langte nach der Pistole, doch ich packte ihr Handgelenk.
Ich fuhr die Scheibe herunter.
»Imposante Wachmannschaft«, sagte Hitch. »Ich hätte euch bequem ins Jenseits befördern können.«
»Hast du sie gefunden?«
»Kaitlin ist da. Adam auch. Sagt mal, wollt ihr mich hinhalten? Vor uns liegt eine Menge Arbeit.«
SECHZEHN
Wir lavierten im Kriechtempo durch Fußgängergruppen. Wir kamen nur langsam voran; die Hauptstraße war nicht mehr als eine Fahrrinne zwischen geparkten oder aufgegebenen Hadsch-Vehikeln und glich mit zunehmender Helligkeit immer mehr einer Jahrmarktsgasse, obwohl die Menschen sichtlich unter Schlafentzug standen. Pilger wanderten benommen und ziellos einher oder schliefen auf ihrem Schlafsack unter den zerlumpten Markisen des Städtchens, sorgloser bei Tag als bei Nacht. Wasserverkäufer mit geschulterten Kunststoffcontainern klapperten die Pilgerscharen ab. Die höher gelegenen Fenster waren mit kuinistischen Fahnen und Symbolen geschmückt. Die sanitären Einrichtungen von Portillo waren restlos überfordert und der entsetzliche Gestank der improvisierten Sickerlatrinen
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