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Die Chronolithen

Die Chronolithen

Titel: Die Chronolithen Kostenlos Bücher Online Lesen
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Kait?«
    Er wies mit dem Kinn auf ein sonnengelbes Zelt.
     
    Kairo kam mir in den Sinn. Der Chronolith war vor drei Jahren aufgetaucht. Sue Chopra hatte Videoaufnahmen aus einem Dutzend unterschiedlicher Blickwinkel bekommen, von allen Phasen des Ereignisses – die Ruhe vor der Manifestation, der Kälteschock und die thermischen Winde, eine Säule aus Eis und Staub, die in den trockenen blauen Himmel toste, und schließlich der Chronolith selbst, funkelnd hell, eingebettet in das Vorstadtgebiet von Kairo wie ein in den Fels gestoßenes Schwert.
    (Und wer wird es aus dem Stein ziehen? Vielleicht die reinen Herzens sind. Briefväter und gescheiterte Ehemänner haben keine Chance.)
    Was Kairo anging, waren es wohl die Widersprüche, die mich so nachhaltig beeindruckt hatten: die wabernde Wüstenhitze; das Eis. Die divergierenden historischen Schichten, Bürotürme errichtet auf den Trümmern einer tausendjährigen Herrschaft und dann das jüngste Monument, Kuin auf seinem frostigen Thron, mächtig und unnahbar wie ein Pharao.
    Ich weiß nicht, wieso ich mich gerade jetzt so lebhaft daran erinnerte. Vielleicht, weil dieses ausgemergelte Nest in Sonora kurz davorstand, seinen eigenen frostigen Thron zu bekommen, und vielleicht lag ja schon ein Hauch von Kälte in der Luft, ein Schauder der Erwartung, der bittere Geschmack der Zukunft.
    »Kaitlin?«, sagte ich.
    Ein launischer Wind schlug die Plane beiseite. Ich ging in die Hocke und steckte den Kopf ins Innere.
    Kait war allein, schälte sich aus einem Nest aus schmutzigen Decken. Sie blinzelte gegen die gelbe Helligkeit aus Sonne und Nylon. Ihr Gesicht war schmal, die Augen umringt von Müdigkeit.
    Sie wirkte älter, als ich sie in Erinnerung hatte, was ich unwillkürlich auf den Hadsch zurückführte, den Hunger und die Ängste, unter denen sie gelitten haben musste; fest stand aber, dass sie mir entglitten war, dass sie aus meinem Bild von ihr herausgewachsen war, und das nicht erst, seit sie Minneapolis verlassen hatte.
    Sie sah mich sehr lange an, ihr Ausdruck spiegelte nacheinander Ungläubigkeit, Argwohn, Dankbarkeit, Erleichterung und Schuldgefühl. Dann sagte sie: »Daddy?«
    Ich brachte nur ihren Namen heraus. Vermutlich das Beste, was mir passieren konnte. Mehr wäre zu viel gewesen.
    Sie kam aus den Decken und in meine Arme. Ich bemerkte die Blutergüsse an ihren Handgelenken, den blutverkrusteten Schnitt, der von der Schulter fast bis zum Ellbogen verlief. Doch ich stellte keine Fragen und begriff die Weisheit von Ashlees Rat: Ich konnte sie nicht von ihren Wunden heilen, nichts ungeschehen machen. Ich konnte sie nur halten.
    »Ich bin hier, um dich nach Hause zu holen«, sagte ich.
    Sie sah mir nicht in die Augen, sagte aber fast unhörbar: »Danke, Daddy.«
    Wieder schlug eine Brise die Plane beiseite und Kaitlin fröstelte. Ich sagte ihr, sie solle sich so rasch wie möglich anziehen. Sie zog ein Paar zerlumpte Jeans an und warf sich einen einfachen Poncho über.
    Ich schauderte. Die Luft schien ein bisschen zu kalt für diesen sengenden Morgen – unnatürlich kalt.
    Draußen rief Hitch nach mir.
     
    »Bring sie in den Wagen«, sagte er, »und beeil dich! Das war nicht abgemacht – ich hab fürs Reden bezahlt, nicht fürs Mitnehmen.« Er drehte das Gesicht in den Wind. »Ich habe das Gefühl, wir haben uns verrechnet.«
    Kaitlin ließ sich auf eine der hinteren Sitzbänke sinken und wickelte sich in eine Decke. Ich riet ihr, sich noch eine Weile klein zu machen. Hitch verriegelte und ging Ashlee holen.
    Kait schniefte und nicht bloß, weil sie den Tränen nahe war. Sie habe sich angesteckt, meinte sie. Eine Grippe oder eine dieser Magendarmgeschichten, die in Portillo kursierten, weil die Menschen immer durstiger und die Wasserverkäufer immer skrupelloser wurden. Ihr Blick war verschleiert und ein bisschen abwesend. Sie hustete in die Faust.
    Draußen schlappten die Zelte und Textilbehausungen im auffrischenden Wind. Hadschisten krochen ins Freie, aufgescheucht durch das unruhige Wetter, Dutzende verstörter Kuin-Jünger in zerrissener Kleidung beschatteten die Augen und fragten sich – begannen sich zu fragen –, ob dieser Sturmwind wohl der unmittelbare Vorbote eines sakralen Ereignisses war – eines Chronolithen, der sich durch fallende Temperaturen und heftige Böen ankündigte.
    Alles war möglich. Der Kuin von Jerusalem war allerdings entschiedener aufgetreten, hatte nicht so viel Federlesens gemacht, doch es war bekannt, dass die Ankunft

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