Die Clans von Stratos
dann werden sie näher ranfahren. Charl, mach dich fertig. Ihr anderen setzt das Segel und dann duckt euch!«
Maia und Brod standen auf, machten gemeinsam das festgezurrte Segel los und zogen es zum Schothornausholer. Die Leinwand flatterte wie ein losgelassener Vogel, blähte sich plötzlich und riß den Ausleger hart nach Backbord. Brod duckte sich nicht rechtzeitig und wurde gegen Maia geschleudert. Sie fielen aufeinander in Richtung Bug.
»Oh, entschuldige«, sagte der Junge, rollte von Maia herunter und wurde rot. »Ach, nicht so schlimm«, antwortete sie und ahmte seinen verlegenen Ton nach. Wäre die Lage nur nicht so verdammt ernst gewesen, hätten alle gelacht.
Tress gesellte sich in der Bodenrundung unterhalb des Schandecks zu ihnen. Als das Boot die Nordspitze der Gefängnisinsel umrundete, übernahm Charl das Steuer, und Naroin verkroch sich ebenfalls. Jetzt war nur noch Charl zu sehen; sie trug ein weißes Hemd, das um den Hals schmutzig war, und dazu eine zottelige selbstgemachte Perücke, mit der sie mehr oder weniger wie eine Blondine aussah.
»Langsam«, sagte Naroin und spähte über die Reling. »Ich sehe das Floß oder jedenfalls das, was davon übrig ist… bleibt unten!«
Maia und Brod kauerten sich wieder auf den Boden, nachdem sie einen kurzen Blick auf herumschwimmende Wrackteile, Splitter, Holzstücke und Kisten sowie einen grausam verstümmelten menschlichen Körper ergattert hatten. Es drehte einem den Magen um. Maia begnügte sich mit Naroins Beschreibung.
»Noch keine Spur von den Piraten. Ich sehe ein, zwei Überlebende, die sich hinter großen Baumstämmen verstecken. Hatte gehofft, es wären mehr, sie wußten ja, was auf sie zukam… Eia! Da ist ihr Schiff! Mach dich bereit, Maia!«
Auch über diesen Teil des Plans hatten sie lang diskutiert. Naroin war der Ansicht gewesen, sie selbst sollte die gefährlichste Aufgabe übernehmen. Doch Maia hatte erwidert, die Polizistin sei einfach zu klein, um die Sache glaubhaft erscheinen zu lassen. Außerdem hatte Naroin Wichtigeres zu tun.
Du wolltest es so, sagte sich Maia. Brod drückte ihr die Hand, um ihr Glück zu wünschen, und sie erwiderte sein Lächeln, ehe sie ans hintere Ende des Bootes kroch.
Von dem Moment an, als das Piratenschiff in Sicht kam, begann Charl zu winken, zu rufen und zu grinsen. Wir müssen uns darauf verlassen, daß sie bestimmte Schlüsse ziehen, dachte Maia. Vor allem durften die Seeräuber die List erst möglichst spät durchschauen.
Aber es ist logisch. Inanna würde nicht auf der Insel bleiben, nachdem das Floß vernichtet ist. Sie würde eine Suchmannschaft durch den Geheimgang lotsen und alle Überlebenden, die sich noch oben auf der Insel aufhalten, umbringen.
Es war eine brutale Logik, die sich aus den jüngsten Ereignissen ergab. Aber entsprach sie auch der Wahrheit? Erwarteten die Seeräuber wirklich eine blonde Frau in einem Segelboot? Maia hätte zu gern über den Bootsrand gespäht.
Mit zusammengebissenen Zähnen beschrieb Charl, was vor sich ging. »Sie sind ungefähr hundertfünfzig Meter weit draußen… Segel gekillt… immer noch zu weit weg. Jetzt zeigt jemand auf mich… und winkt. Jemand sieht durch ein Fernglas. Legen wir los, schnell!«
Mit einem tiefen Atemzug stand Maia auf und tat so, als wollte sie sich auf Charl stürzen. Sie holte zu einem Schlag aus, dem Charl im letzten Moment auswich. Die Matrosin schubste Maia zurück, das Boot schwankte. Dann begannen sie miteinander zu ringen und sich gegenseitig mit den Händen an die Kehle zu gehen. Dabei achteten sie darauf, daß Charl den Piraten stets den Rücken zuwandte. Selbst durch ein Fernglas würde der Feind nicht mehr ausmachen können als eine große blonde Frau, die mit einer vermutlich aus dem Wrack hereingekletterten Frau kämpfte.
Aufgeregte Schreie schollen übers Wasser. Sie erledigen uns mit der Kanone, wenn sie Verdacht schöpfen. Und auch dann, wenn ihnen ihre Spione nichts wert sind.
Selbst ein Scheinkampf mit Charl war anstrengend. Das schaukelnde Boot zwang sie, sich immer wieder ernsthaft aneinander zu klammern. Nach ein paar Minuten packte Charl Maias Hals so fest, daß ein sehr echter Schmerz sie durchzuckte.
»Maia!« zischte Naroin von unten, die Hand am Steuerrad. »Wo sind sie?«
Maia stieß Charl von sich und zielte einen Scheinschlag direkt an ihrem Ohr vorbei. Dabei blickte sie über Charls Schulter und sah, wie der Segler wendete und die Fock so weit füllte, daß sie etwas Geschwindigkeit
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