Die Clans von Stratos
sie Leie. »Sonst verpassen wir die Nachrichten.«
Doch Leie schüttelte den Kopf. »Wir haben jede Menge Zeit. Ich möchte nur den ersten Teil des Glockenspiels sehen, danach gehen wir. Versprochen.«
Maia seufzte. Instinktiv wußte sie, wann sie etwas gegen Leies Dickkopf ausrichten konnte und wann es verlorene Liebesmüh war. Glücklicherweise hatten sie eine gute Sicht. Unterdessen hatten sich die Türen ganz geöffnet, und aus dem Portal erschien nun die Bronzefigur eines männlichen Affen, der mit dem typischen Knöchelgang über den Köpfen der Zuschauer entlangschwankte; unter einem Arm hielt er ein zappelndes vierbeiniges Tier, im Mund einen scharfkantigen Stein. Dreimal drehte sich der Affe, als taxierte er die Leute unter sich. Dann erhob sich die Figur auf die Hinterbeine und verwandelte sich wie durch ein Wunder in eine aufrechte menschliche Gestalt, die eine lange Kette trug. Der Stein in seinem Mund hatte sich in die stilisierte phallische Form der Bombe verwandelt.
Leies Augen strahlten; das kunstvolle Spiel der Bronzeplatten sah wirklich hinreißend lebensecht aus und war nicht umsonst eine weltweit bekannte Version der berühmtesten stratoianischen Legende – eine Metapher der Evolution.
Nun öffnete sich eine andere Tür. Ein weiblicher Affe trat hervor, in der Hand das traditionelle Obstbündel. Gleich wie beim letzten und beim vorletzten Mal, dachte Maia. Ganz nett, aber langweilig.
Einen Moment wandte sie den Blick ab und schaute hinüber zum Café… und stutzte. Nur wenige Sekunden waren vergangen, aber jetzt lagen nur noch ein paar leere Flaschen an der Stelle, wo die Gästegruppe gewesen war. Auch Naroin war verschwunden.
Ach was. Maia schüttelte den Kopf. Es geht mich doch sowieso nichts an. Außerdem ist es Zeit, in die Oberstadt aufzubrechen.
Maia zog ihre Schwester am Arm. Leie versuchte, sie abzuschütteln, so fasziniert war sie immer noch vom Tanz der Metallfiguren. Aber jetzt blieb Maia beharrlich. »Den Teil haben wir schon zweimal gesehen! Ich will die Nachrichten nicht schon wieder verpassen!«
Leie stieß einen dramatischen Seufzer aus, und Maia dachte: Ich wollte, sie würde nicht jedesmal, wenn es mal nach meiner Nase geht, so darauf herumreiten, daß es schon fast aussieht, als täte sie mir einen Gefallen, für den ich mich irgendwann revanchieren muß.
»Na gut«, meinte Leie mit einem übertriebenen Achselzucken. »Dann sehen wir uns eben die Nachrichten an.«
Hinter ihnen, auf der anderen Seite des kopfsteingepflasterten Platzes, erschien jetzt Mutter Lysos durch eine Tür über den anderen Figuren, im Arm ein Bioskop. Mit gütigem Blick schwang sie die Schriftrolle mit den Gesetzen in der anderen Hand, holte aus und zerschmetterte mit einem mächtigen Schlag für immer die Ketten, welche die Frau an den Willen des Mannes fesselten.
Natürlich hatte sich vor dem hölzernen Amphitheater vier Straßen hügelaufwärts eine lange Schlange gebildet. Maia brummte.
»Sieht aus, als müßten wir eine Weile warten«, sagte Leie. »Na ja.«
So war sie eben, ihre Zwillingsschwester. Hitzköpfig, wenn es um die Fehler anderer ging. Von beinahe fatalistischer Gelassenheit den eigenen gegenüber. Innerlich kochte Maia vor Wut, und sie reckte den Hals, um zu sehen, ob es wenigstens vorwärtsging. Eine Marschallin der Garde stand an der Kasse, um allgemein für Ordnung zu sorgen und sicherzustellen, daß kein Sommerling unter fünf sich ohne schriftliche Erlaubnis einer Clanmutter hier einschlich. Die Frauen an der Tür beugten sich vor, um der von den Lautsprechern übertragenen Rede zu lauschen, und richteten sich wieder auf, um ihren Freundinnen zu berichten, was sie verstanden hatten. Das Gemurmel zunehmend verzerrter und gefilterter Neuigkeiten zog sich durch die Reihen bis hin zu den beiden Schwestern. Genau wie in der Nacht des Freibeuterüberfalls lauschte Leie begierig und gliederte sich in die Kette ein, ohne darauf zu achten, daß die bruchstückhaften Informationen zum größten Teil bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt waren.
»Du hattest recht«, informierte sie Maia. »Es gab einen Bericht über die Outsider.« Sie machte eine Handbewegung zum Himmel. »Aber es gibt noch keine Bilder von dem Besucher, der angeblich gelandet ist.«
Maia seufzte enttäuscht. Bisher hatte sie sich nie Gedanken darüber gemacht, warum der Große Rat mit Nachrichten zu diesem Thema dermaßen geizig war. Wissen und Macht gehörten zusammen, das lehrten die Clanmütter. Aber
Weitere Kostenlose Bücher