Die Clans von Stratos
tröstlich. Maia erfaßte ihre Quintessenz – das Leben geht weiter.
Seufzend nahm Maia das schmale Bändchen wieder zur Hand.
»Ein lebendiger Planet ist eine weit komplexere Metapher für das Göttliche als ein Übervater mit einer noch größeren Faust«, ging der Abschnitt weiter. »Wenn ein allwissender, allmächtiger Papa ein Gebet nicht erhört, muß man das persönlich nehmen. Stößt man lange genug auf nichts als Schweigen, so beginnt man, sich Gedanken über Seine Macht zu machen. Über Seine Gerechtigkeit. Über Seine Existenz.
Wenn jedoch die Weltmutter nicht antwortet, hat Sie eine einfache Entschuldigung dafür. Sie hat nie behauptet, allmächtig zu sein. So viele Kreaturen hängen an ihrem Schürzensaum, einschließlich der unzähligen Arten, die nicht für sich selbst sprechen können. Zu Ihren älteren Sprößlingen sagt sie: Plündert den Kühlschrank. Geht nach draußen spielen. Sucht euch einen Job.
Oder noch besser – helft mir doch ein bißchen! Wir haben keine Zeit, nutzlos rumzujammern.«
Mit einem erneuten Seufzer klappte Maia das Buch zu. Einen großen Teil des Nachmittags hatte sie bereits damit verbracht, über diesen Aufsatz nachzudenken, den angeblich die Große Gründerin selbst geschrieben hatte. Der Abschnitt gehörte nicht zu den offiziellen Schriften. Doch bei der Arbeit im Tempelgarten ging er ihr nicht mehr aus dem Kopf. Priesterin-Mutter Kalor hatte ihr das Buch geliehen, weil es der traditionelleren Lektüre nicht gelungen war, Maias schmerzendes Herz zu trösten. Gegen alle Erwartung hatte es geholfen. Der Ton war offener und lockerer als in der traditionellen Liturgie und teilweise sogar humorvoll. Zum ersten Mal konnte Maia sich Lysos als eine Frau vorstellen, die sie gern kennengelernt hätte. Nach wochenlanger Depression brachte Maia so ein erstes, zögerndes Lächeln zustande.
Ihre Verletzungen waren schlimmer gewesen, als alle gedacht hatten, die sie vor einigen Wochen den Kohlenkahn der Wotan hatten verlassen sehen. Vielleicht fehlte ihr auch der Wille zur Genesung. Als die Geschäftsführerin des kleinen, verdreckten Hotels sie eines Morgens schweißgebadet und fiebernd im Bett gefunden hatte, hatte die Klonfrau nach ihren Schwestern im örtlichen Tempel geschickt, damit sie Maia abholten und gesund pflegten.
»Es tut uns so leid, jüngere Schwester«, antworteten die Altardienerinnen jeden Morgen, »aber wir haben immer noch kein Zeichen von der Zeus gesehen. Und keine junge Frau, die dir ähnlich sieht, ist an Land gekommen.« Die Tempelmutter bezahlte sogar aus eigener Tasche einige Netzrufe nach Lanargh und andere Hafenstädte. Das Schiff, auf dem Leie gewesen war, war als vermißt gemeldet. Seine Gilde hatte einen Antrag bei der Versicherung eingereicht und befand sich offiziell in Trauer.
Maia hatte Mutter Kalor für ihre Freundlichkeit gedankt, war in ihre Zelle gegangen und hatte sich dort schluchzend auf die schmale Pritsche geworfen. Sie hatte gejammert und die Fäuste geballt, sie hatte auf die Matratze eingeschlagen, bis ihre Finger gefühllos wurden. Die meiste Zeit des Tages schlief sie, wälzte sich nachts schlaflos hin und her und verlor jeden Appetit.
Ich wollte sterben, erinnerte sie sich jetzt.
Mutter Kalor schien sich deswegen keine allzu großen Sorgen zu machen. »Das ist normal. Es geht vorüber. Uns Vars fällt es schwerer loszulassen, wenn wir uns an jemanden binden. Deshalb ist für uns die Trauer härter, als sich eine Klonfrau je wird vorstellen können.
Es sei denn, eine Klonfrau hat ihre gesamte Familie auf einmal verloren. Die Verzweiflung, die sie dann empfindet, können du oder ich uns nicht vorstellen.«
Aber Maia konnte es. In gewisser Hinsicht hatte sie ja eine Familie, einen Clan verloren. Ihr ganzes Leben lang war Leie dagewesen. Manchmal war Maia wütend auf sie gewesen, hatte sich von ihr erdrückt gefühlt, aber Leie war ihre Kameradin gewesen, ihre Verbündete, ihr Spiegelbild. Die Trennung am Tag ihrer Abreise war Maias Idee gewesen, eine Möglichkeit, eigenständige Fertigkeiten zu entwickeln, aber immer hatten sie ein gemeinsames Ziel vor Augen gehabt. Einen gemeinsamen Traum.
Maia hatte sich verflucht. Es ist meine Schuld. Wenn sie zusammengeblieben wären, wären sie auch jetzt noch vereint, im Leben oder im Tod.
Die Priesterin hatte all die Dinge gesagt, die von ihr zu erwarten waren. Daß die Überlebenden sich keine Vorwürfe machen dürfen; Leie es gewollt hätte, daß es Maia gutging; das Leben
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