Die Clans von Stratos
»N-nein, Jacko, sie haben bloß…«
»Lennie, Rose, bewegt euren Arsch ins Haus!« schimpfte die Frau, die aussah wie Tizbe. »Das Zeug ist nicht dazu da, daß jeder es sieht, und Gratisproben werden schon gar nicht verteilt!«
»Ach, Mirri, wir haben’s doch nur probiert…«, jammerte eine der jungen Frauen und wich im letzten Moment einer Ohrfeige aus. Die Flasche wurde ihr aus der Hand gerissen, und sie rannte ins Haus.
Also ist Tizbe gar keine Var, bestätigte sich Maia. Und eine wie sie wird mit dem Alter immer gemeiner.
Die ältere Frau wandte sich um und betrachtete Maia mit kalten Augen. »Wer, zum Teufel, bist denn du?«
Maia blinzelte. »Oh… niemand.«
»Dann verschwinde, Niemand. Du hast nichts gesehen…«
»Garn!« schrie der untersetzte Mann. Durch den Tumult und unter dem Einfluß der Hormone hatte der junge Mann den einfahrenden Zug vergessen und lehnte sich auf den Hebel, vielleicht weil die Schwellung in seiner Hose schmerzhaft wurde. Ein dumpfes elektrisches Brummen und Klicken ertönte. Entsetzt riß er den Hebel herum, aber in der Aufregung viel zu weit. Es klickte zweimal, laut und durchdringend. Er zerrte den Hebel zurück…
Ein schrilles Heulen füllte die Luft, als der entsetzte Lokomotivführer die Notbremse zog, aber hilflos zusehen mußte, wie die Schwungkraft die einfahrende Lokomotive auf unsichtbaren Magnetfeldern in ein Gleis leitete, auf dem bereits ein anderer Zug stand.
Der Junge brachte sich auf dem Bahnsteig in Sicherheit. Alle anderen ergriffen die Flucht.
Jetzt wußte Maia, warum ihr Tizbe bekannt vorgekommen war.
Jenseits der Menge der Schaulustigen, die sich eingefunden hatten, um das Unglück zu begaffen, sah sie die Frau, die sie für ihre Assistentin gehalten hatte, wieder, in ein angeregtes Gespräch mit der echten Tizbe vertieft. Eine oder beide hatten sich die Haare gefärbt, aber wenn man sie nebeneinander sah, war es offensichtlich. Sie waren eine ältere und eine jüngere Version ein und desselben Gesichts.
Nun erinnerte sich Maia auch plötzlich wieder daran, wo sie das Gesicht schon einmal gesehen hatte. Mehrere Mitglieder von Tizbes Clan hatten in dem Café am Hauptplatz von Lanargh gesessen, ebenfalls vor einem Haus mit Plüschgardinen. Als sie ein zweites Mal hinschaute, entdeckte Maia das gleiche Emblem über dem Gebäude an den Gleisen – ein grinsender Bulle, der eine Glocke im Maul schwang.
In den meisten Städten gab es solche ›Entspannungshäuser‹ – Unternehmen, die sich der Befriedigung bestimmter menschlicher Bedürfnisse widmeten, vor allem solcher, die im tiefen Winter und im Hochsommer auftraten. ›Sicherheitsventile‹, hatte Savante Judeth die Etablissements genannt. ›Bordelle‹, war Savante Claires Ausdruck gewesen, und sie hatte ihn mit so viel Ingrimm benutzt, daß niemand zu fragen wagte, was das Wort bedeutete.
In der Wirklichkeit machten sie einen ganz normalen und geschäftsmäßigen Eindruck. Für Seeleute, die aus irgendwelchen Gründen keine Einladung in eine Clanfeste bekamen, waren diese Einrichtungen eine echte Alternative, wenn die Aurorae ihr Blut in Wallung brachte. Und tief im Winter, wenn die Männer sich mehr für ihre Spielbretter als für körperliche Freuden interessierten, verspürte auch manch eine gewöhnlich so unterkühlte Lamai-Schwester gelegentlich den Wunsch, ›sich verwöhnen zu lassen‹. Vor allem, wenn der Glorienfrost vom Himmel fiel, machten sie sich auf in die Unterstadt, um einen der eleganten Paläste aufzusuchen, die von den reicheren Stämmen frequentiert wurden.
Natürlich wurden solche profitablen Etablissements von spezialisierten Clans geführt, auch wenn man häufig auf Vararbeitskräfte zurückgriff. Maia und Leie hatten eine solche Karriere nie in Erwägung gezogen, weil sie sich weder für hübsch noch für oberflächlich genug hielten. Dennoch machten sie sich Gedanken, was wohl in solchen Häusern vor sich ging.
Die beiden Tizbe blickten zu ihr herüber. Maia bekam eine Gänsehaut und wandte sich rasch ab. Was haben solche blasierten Oberschichtsweiber hier draußen im Niemandsland zu suchen?
Zum Glück war bei dem Unfall niemand ernsthaft verletzt worden, was eigentlich an ein Wunder grenzte, wenn man bedachte, wie heftig die beiden Züge aufeinandergeprallt waren – Metallteile waren zusammengeschoben worden wie Ziehharmonikas. Sanitäterinnen aus der städtischen Klinik behandelten noch immer die Kratzer und Schürfwunden. Der Zugführer des zweiten Zuges
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