Die Company
hat mich gestern Abend zu einem Cognac in sein Büro eingeladen. Als ich ihm sagte, er sehe bedrückt aus, hat er auf die typisch russische Art gelacht – ein Lachen, in dem mehr Philosophie als Humor liegt. Er sagte, wir Russen kämen schon traurig auf die Welt. Er meint, das kommt vom russischen Winter und weil Russland so unendlich weit ist. Er sagt, wir haben Angst vor der unendlichen Weite, so wie Kinder vor der Dunkelheit – weil wir fürchten, irgendwo da draußen lauert das Chaos. Ich habe gesagt, das erklärt, warum wir uns mit Stalin abgefunden haben – aus Furcht vor Chaos, vor Anarchie verfallen wir ins andere Extrem: Wir schätzen Ordnung, auch wenn sie nicht auf Recht und Gesetz basiert.«
Manny hatte Kukuschkins Augen beobachtet, während er sprach; sie waren unverwandt auf seinen amerikanischen Freund gerichtet und blickten gequält. Der Nagel seines Mittelfingers war plötzlich nicht mehr über den Daumen geschnippt. Er hatte einen Seufzer ausgestoßen. War Kukuschkin der echte Überläufer, als der er sich ausgab, oder bloß ein meisterhafter Schauspieler?
Von der Antwort auf diese Frage hing Leo Kritzkys Schicksal ab.
Kukuschkin, als wollte er plötzlich sein Herz ausschütten, hatte weitergeredet. »Ich werde Ihnen etwas erzählen, das ich noch keiner Menschenseele erzählt habe, Manny. Nicht einmal meiner Frau. Es gab einen Kommunisten, sein Name war« – selbst jetzt, selbst hier hatte Kukuschkin aus reiner Gewohnheit die Stimme gesenkt – »Piotr Trofimowitsch Ishow, der in unserem Bürgerkrieg ein großer heldenhafter Kämpfer war und es zum Generaloberst gebracht hatte. Im Jahre 1938, ich war damals elf Jahre alt, verschwand Piotr Ishow spurlos – er kehrte einfach nach der Arbeit nicht in seine Wohnung zurück. Als seine wesentlich jüngere Frau, Sinaida, nach ihm suchte, erfuhr sie, dass ihr Mann verhaftet worden war, weil er zusammen mit Trotzki ein Mordkomplott, gegen Stalin geschmiedet hatte. Es gab keinen Prozess – vielleicht weigerte er sich zu gestehen, vielleicht konnte er nicht mehr gestehen, weil man ihn halb totgeschlagen hatte. Wenige Tage später wurden Sinaida und Ishows ältester Sohn Oleg als Volksfeinde verhaftet und in ein Straflager in der Wüste Kara-Kum in Zentralasien deportiert. Dort nahm sich Sinaida das Leben. Dort starb Oleg an Typhus. Der jüngste Sohn, elf Jahre alt, wurde von einem entfernten Verwandten in Irkutsk adoptiert. Der Name des Verwandten war Klimow. Der Elfjährige bin ich, Manny. Ich bin der Sohn des Volksfeindes Ishow.«
Manny hatte das Geständnis als entscheidenden Wendepunkt in ihrem Verhältnis zueinander gedeutet. Er hatte Kukuschkins Handgelenk ergriffen. Der Russe hatte genickt, und Manny ebenfalls. Das Schweigen zwischen ihnen war bedrückend geworden. Manny hatte gefragt: »Warum erzählen Sie mir das erst jetzt?«
»Weil Sie erst jetzt … mein Freund sind.«
Eines hatte Manny verwirrt. »Der KGB hätte Sie doch niemals angeworben, wenn er über Ihre Vergangenheit Bescheid gewusst hätte.«
»Mein Adoptivvater, Iwan Klimow, hat als Ingenieur in einer Flugzeugfabrik in Irkutsk gearbeitet. Nach dem Großen Vaterländischen Krieg wurde er nach Moskau versetzt und ist schließlich in die Nomenklatura aufgestiegen; er wurde Staatssekretär für Flugzeugbau im Rüstungsministerium. Er wusste, dass ich niemals in die Partei hätte eintreten oder eine Universität besuchen können, niemals einen wichtigen Posten bekleiden dürfen, wenn meine Geschichte herausgekommen wäre. Die Klimows hatten 1936 einen Sohn im gleichen Alter wie ich durch einen Autounfall verloren. Als sie nach Moskau versetzt wurden, gelang es ihnen mit Hilfe eines Neffen, der im Zentralen Standesamt in Irkutsk beschäftigt war, alle Spuren meiner Vergangenheit zu löschen. In Moskau hat Iwan Klimow mich als seinen ehelichen Sohn Sergei ausgegeben.«
»Mein Gott«, hatte Manny geflüstert. »Was für eine Geschichte!«
Was ihn am meisten daran beunruhigte, war, dass niemand sie sich hätte ausdenken können.
Jack stand in der Telefonzelle auf dem Parkplatz des NSA-Gebäudes in Fort Meade, Maryland, und fütterte den Apparat mit Münzen. »Unser schlimmster Alptraum ist wahr geworden«, sagte er zu Ebby. »Ich kann jetzt nicht mehr sagen – die Leitung ist nicht sicher. Ich bin um drei zurück. Trommle einen Kriegsrat zusammen. Alle von der Sondereinheit sollen kommen.«
Colby erschien als Letzter zu der Besprechung. »Entschuldigen Sie meine Verspätung«,
Weitere Kostenlose Bücher