Die Company
Sinnvolles aus dem bisschen Leben zu machen, das mir geblieben war, schloss ich mich jenen an, die der Entfremdung und dem Kapitalismus den Kampf angesagt hatten. Ich tat es zum Gedenken an meinen Sohn, den die Nazis ermordet haben. Sein Name war Alfred, Alfred Tannenbaum, nur sieben Jahre ist er alt geworden. Natürlich glaube ich nicht ein Wort von dem, was alles über Stalin erzählt wird – ich bin absolut sicher, dass es sich dabei um kapitalistische Propaganda handelt.«
Drei junge Männer in Anzügen und eine junge Frau, alle leicht beschwipst, betraten die Halle. Sie debattierten, ob sie sich an die Bar oder an einen der Tische setzen sollten. Die Bar gewann. Sie stellten ihre Aktenkoffer ab, rutschten auf die Barhocker und bestellten recht laut ihre Drinks. Eugene musterte die Neuankömmlinge einen Moment lang, dann wandte er sich wieder Aida zu. »Sie sind das, was die Amerikaner eine unbesungene Heldin nennen würden. Die wenigen Menschen, die wissen, was Sie leisten, bewundern Sie dafür.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht.« Aida tupfte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Ich hab eine Wohnung in der Corcoran Street Nummer siebenundvierzig gemietet, nicht weit von der Johns-Hopkins-Universität. Morgen ziehe ich ein. Ich wohne gerne in Häusern, in denen Studenten leben – die sind immer so nett zu Silvester. Und oft gehen sie auch für mich einkaufen, wenn ich mich zu schlecht fühle, um auf die Straße zu gehen.« Sie brachte ein angestrengtes Lächeln zustande. »Vielleicht könnten wir uns dann und wann mal wieder treffen.«
»Das wäre vermutlich keine gute Idee. Wir dürfen das Risiko nicht noch einmal eingehen.«
»Wenn sie uns in all den Jahren nicht aufgespürt haben, dann jetzt bestimmt nicht mehr«, sagte sie.
»Trotzdem –«
»Einmal alle sechs Monate, vielleicht? Oder auch nur einmal im Jahr?« Aida seufzte. »Was wir tun, wie wir es tun, ist so schrecklich einsam.«
Eugene lächelte sie aufmunternd an. »Sie haben wenigstens Silvester.«
»Und Sie, mein lieber Junge. Wen haben Sie?« Als er stumm blieb, griff sie über den Tisch und legte ihre Hand auf seine. Sie war so zerbrechlich, so leicht, dass er hinsehen musste, um sich zu vergewissern, dass sie ihn berührte. Sie zog die Hand zurück, holte einen dünnen Kugelschreiber aus ihrer Tasche und kritzelte eine Telefonnummer auf die Innenseite eines Streichholzbriefchens. »Wenn Sie Ihre Meinung ändern, bevor« – sie lachte leise – »bevor unsere Freunde eine neue Gewinnzahl senden, können Sie mich unter dieser Nummer erreichen.«
Draußen pfiff ein kalter Wind. Aida trug einen Stoffmantel mit künstlichem Fellbesatz. Eugene wollte ihr ein Taxi herbeiwinken, doch sie sagte, sie würde lieber zu Fuß gehen. Sie stopfte ein dickes Tuch in den Korb um Silvester und knöpfte ihren Mantel bis zum Hals zu. Eugene streckte ihr die Hand entgegen, aber sie hob den Arm, schob ihre dünnen Finger in seinen Nacken und zog seinen Kopf mit einer liebevollen Geste zu sich herunter, um ihn sacht auf den Mund zu küssen. Dann wandte sie sich rasch ab und schritt davon.
Sobald sie außer Sicht war, nahm Eugene das Streichholzbriefchen aus der Tasche und zerriss es in zwei Teile. Eine Hälfte warf er in den Rinnstein, die andere in einen Mülleimer zwei Querstraßen weiter.
Er würde Aida Tannenbaum nie wieder sehen.
Bill Casey saß in einer Konferenz, in der sich Wirtschaftsexperten der CIA und Kollegen von außerhalb um einen Konsens über die Einschätzung der Lage in der Sowjetunion bemühten, und langweilte sich zu Tode. Die Meinungen über das sowjetische Pro-Kopf-Einkommen waren geteilt, die CIA-Fraktion stellte es auf eine Stufe mit dem von Großbritannien, während die andere errechnet hatte, dass es ungefähr so hoch war wie das von Mexiko. Während die Experten beider Lager einander zur Bekräftigung ihrer jeweiligen Standpunkte Statistiken um die Ohren schlugen, unterdrückte Casey einen Gähnanfall nach dem nächsten und blickte teilnahmslos zum Fenster hinaus. Es war dunkel geworden, und die Lampen, die den Sicherheitszaun von Langley erhellten, gingen flackernd an. Casey wusste etwas, das die Zahlenakrobaten nicht wussten: Die CIA hatte Anzeichen dafür festgestellt, dass die sowjetische Wirtschaft tatsächlich stagnierte, beschönigte aber weiterhin die Wachstumsrate, um Reagans Leute zu beschwichtigen, die fuchsteufelswild wurden, wenn jemand auch nur die Möglichkeit in Erwägung zog, dass die sowjetische
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